Rainswept Review | Zwischen Trauma und Twin Peaks

Michael Stone ist ein ehrgeiziger Ermittler. Immerzu bemüht alle Hinweise richtig einzuordnen und erst dann zu einem Schluss zu kommen. Doch in seinem neuen Fall plagen ihn zunehmend vergangene Ereignisse, die den klaren Blick emotional beeinflussen.

Ein kleines Örtchen, wunderschöne Ausblicke und malerische Landstriche. Das regionale Polizei-Quartier hat hier eigentlich absolut nichts zu tun. In Pineview bereiten sich alle auf das anstehende Herbstfest vor. Doch ein scheinbar Erweiterter Suizid des neu hinzugezogenen Pärchens sorgt für Aufregung unter den Bürger_innen. Chris und Diane wurden tot in der Küche ihres Hauses aufgefunden. Es sind keine äußeren Einflüsse zu erkennen. Für den Polizeichef scheint die Sache klar. Er will den Fall schnellstmöglich als Erweiterten Suizid zu den Akten legen, denn das Stadtgespräch hat schon lange Spannungen zwischen diesem Pärchen ausmachen können. Zudem sollen die Planungen für das Fest unbeirrt fortgesetzt werden.

Doch nun wurde Ermittler Michael Stone in das beschauliche Örtchen geschickt, um die klar scheinende Sachlage von außen zu beurteilen, denn einen Mordfall hat es in Pineview noch nie gegeben. Dass nun ein Typ aus der Stadt seine Nase in private Angelegenheiten der Bewohner_innen steckt gefällt den örtlichen Beamten überhaupt nicht. Doch Stone nimmt mit Hilfe der ortsansässigen, empathischen Polizistin Amy Blunt unbeirrt die Spur auf.

Ein Hauch Twin Peaks

Klingt ein wenig nach Twin Peaks? Armaan Sandhu hat sich für Rainswept umfassend vom David Lynch Werk inspirieren lassen. Atmosphäre, Musik, Charaktere und endlose Wälder erinnern immer wieder an das düstere Krimi-Drama der 90er Jahre. Kein Zufall also, dass der Fall in Pineview ebenfalls in den 90ern spielt. Zudem bekommen in Rainswept nicht nur die Hauptcharaktere eine angenehm tiefe Zeichnung ihres bisherigen Lebens und ihrer Wesenszüge, sondern ebenfalls alle anderen Bewohner_innen des Örtchens. In vielen Gesprächen kannst du einiges über sie erfahren. Von Familiendramen, über Sehnsüchte bis hin zur Schönheit des Tees.

Das Krimi-Adventure nimmt sich die Zeit, dir ein detailliertes Bild der Lebensumstände in  Pineview zu zeichnen. Es bildet Beziehungsabhängigkeiten und konstruiert Zusammenhänge. Das erzeugt eine unglaubliche Dichte in der Glaubwürdigkeit des Schauplatzes. Rainswept ist eine Art visueller Roman, in dem du dich dennoch frei bewegen kannst und durch reduzierte Point & Click Elemente die Entwicklung der Erzählung vorantreibst. Hier übernimmst du die Rolle des Detektiven Michael Stone, der in Gesprächen mit den Menschen aus Pineview versucht Zusammenhänge zu erkennen und Gerüchten Klarheit zu verschaffen. Immer wieder kommt es so zu spielbaren Erinnerungen und Rekonstruktionen des tot aufgefundenen Pärchens, in denen du Chris übernimmst und Momente erlebst, die für die Beziehung und das Verstehen des Vorfalls von Bedeutung sein könnten.

Zunehmend geraten Themen in den Vordergrund, die Rainswept zu einem vielschichtigen und wichtigen Spiel werden lassen. Denn der aktuelle Vorfall lässt Protagonist Stone Albträume erleben, die auf ein ungeklärtes, tiefsitzendes Trauma hindeuten. Immer wieder wird in den Rückblenden deutlich, dass Chris und Diane ebenfalls einige unverarbeitete Ereignisse mit sich tragen, die zunehmend die Beziehung belasten. Auch das Einfinden in die Dorfgemeinschaft scheint deutlich schwieriger als erwartet. Unter den Bürger_innen von Pineview erfährst du zudem immer wieder von Schicksalsschlägen, Depressionen und Ängsten, die den gesamten Erzählstrang von Rainswept spürbar emotionalisieren.  Das wirkt oft nicht ganz so lässig eingebunden und manchmal auch zu gewollt konstruiert, ändert am Fakt der wichtigen und nötigen Implementierung dieser Themen absolut nichts. Und immer wieder ist auch ein wenig Zeit für wundervolle, positive, lustige und absurde Momente.

Ist das schön hier

So sehr wie Twin Peaks in der erzählerisch, düsteren und gewaltigen Struktur in Rainswept grüßt, so unglaublich anders ist dieser Krimi in seiner visuellen Ausrichtung. Nüchterne Kontraste und reichhaltige Farbpaletten bestimmen das Bild. Ein wenig Surrealität, ein wenig moderner Grafik-Pop. Im Grunde Naive Kunst mit der grafischen, minimalistischen Klarheit früher cinematographischer Spiele. Immer wieder erinnert dich der gesamte Stil, auch in seiner Animation, an ein poliertes Another World, in dem die detaillierten Pixelflächen den klaren Konturen weichen und jedem/jeder Grafiker_in ein Schmunzeln über die Lippen fahren lassen würde. So ziemlich jede Einstellung und jede eingeworfene Cutscene lässt deinen Zeigefinger auf die Taste für den Screenshot gleiten. Jeder einzelne Frame ein einmaliges Desktop-Hintergrund-Kunstwerk.

Doch Rainswept besteht nicht nur aus diesen tollen, atmosphärischen Perspektiven. Denn das Spiel von Frostwood Interactive, dem Indie-Studio von Einzelentwickler Armaan Sandhu aus Indien, spielt unglaublich gerne mit Kamerafahrten und clever gesetzten Zooms, die den Eindruck einer cineastischen Erzählung verstärken und im Verbund mit der punktuell einsetzenden, großartigen Musik von Micamic den immersiven Spielfluss stärken. Wenn aus der Totalen des Raums im 2D-Drama sich Stone langsam hinkniet, um Details zu beleuchten, kommt die Kamera ihm langsam näher, um aus der Totalen ein dramatisierendes Close-Up zu erzeugen. Das wirkt nicht nur charmant, sondern auch aufmerksam und bewusst, um die dramatischen Ereignisse der Story auch in den Bildern zu forcieren. Klassisches Kino!

Immer wieder erwischt du dich dabei, wie du in Spielpausen weiterhin an die intensiven und liebevollen Ereignisse denkst, die tollen Einstellungen und Szenerien. Du möchtest einfach nur so schnell wie möglich zurück nach Pineview, zurück zu den eigenartig wirkenden aber liebenswerten Bewohner_innen, um den Fall um das Pärchen endlich aufklären zu können, der auch deine Gefühlswelt belastet.

Vom Regen gepeitscht

Rainswept besteht nicht aus schwer zu lösenden Rätseln und zu verknüpfenden Gegenständen. Anders als in klassischen Point & Click Adventures wird hier die Spielmechanik lediglich zur Förderung der narrativen Ebene genutzt. Dinge mit denen du interagieren sollst, erscheinen mittels einer Lupe im Vorbeigehen. Es soll mit jeder möglichen Kraft dein Aussteigen aus der Erzählung vermieden werden, um ihre Eindringlichkeit zu bekräftigen und nicht durch unplausible Rätsel zu beschädigen.

Rainswept ist ein reines narratives Krimi-Drama, das sich dennoch bei Gameplay-Elemente anderer Bereiche bedient, um die Immersion zu stärken und dich nicht mit reinen Geschichtsbrocken zu überladen. Das Spiel von Frostwood Interactive ist nicht perfekt, aber verdammt mitreißend, trotz seiner kleinen Schwächen in der Gesamtkonstruktion der Geschichte. Rainswept ist wunderschön und wahnsinnig intensiv. Immer wieder findest du kleine Krümelchen, die deine realen Erlebnisse mit ins Geschehen einbinden. Gerade im Zusammenhang mit den Themen Liebe, Beziehung, Familie, Verlust, Trauma und Depression. Kein Wunder also, dass es in Pineview um diese Jahreszeit recht kalt ist und andauernd regnet. Ein Stilmittel, das sich durch die ganze Erzählung zieht.

Rainswept ist ein überaus charmantes und intensives Erlebnis, das in seinen ausgefuchsten Eigenheiten und der cineastischen Erzählweise glänzt. Durch die Tiefe der verschiedenen Charaktere gewinnt es zudem an eindringlicher Einzigartigkeit. Ein Mordfall, der durch sein Wechselspiel zwischen den aktuellen und vergangenen Ereignissen an Flexibilität und Durchschlagskraft gewinnt. Rainswept hat die Kraft, dich trotz seiner kleinen story- und animationstechnischen Fehlerchen in seine Ereignisse mit einzuspannen, um am Ende eine persönliche, ergreifende und wichtige Geschichte zu erzählen, die manchmal ganz schön in deinen Magen kneift, oft deine Tränendrüsen strapaziert, in ihrer Gesamtheit bewegt, dich  aber auch immer wieder zum Lachen bringt und zudem unglaublich mitfühlend und stärkend wirkt.

8/10 <3

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=UE9_fKZfM7U&w=560&h=315]

Developer/Publisher: Frostwood Interactive
Team: Armaan Sandhu (Einzelentwickler)
Musik: Micamic
Veröffentlichung: 1. Februar 2019 (Steam, GoG/PC und Mac)

Autorin: Benja Hiller
Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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