FIREWATCH Review | Jede Perspektive ein einzigartiges Gemälde

 

Ein einziges Gemälde war es, das Firewatch die nötige Inspiration für ein Videospiel gab. Jetzt kannst du ohne Skrupel behaupten, permanent durch ein ursprüngliches Kunstwerk zu wandern, ohne Muskelkater zu fürchten während sich die Geschichte des Spiels langsam ausbreitet und deine Aufmerksamkeit fordert.

Henry führt ein ganz durchschnittliches Leben. Seit Jahren lebt er mit seiner Freundin Julia zusammen. Sie heiraten, adoptieren einen Hund und unternehmen viel. Doch mit der Zeit wird Julia immer vergesslicher, kann sich an Momente nicht mehr erinnern, alltägliche Aufgaben fallen schwer. Die Demenz schreitet schnell voran und Henry kommt nicht mehr mit, die Pflege wächst ihm über den Kopf. Julia zieht zurück zu ihren Eltern zieht, allein. Henry beschleicht die Angst, dass sie ihn eines Tages nicht einmal mehr erkennen wird, sich nicht an gemeinsame Momente erinnern kann. Um aus der negativen Gedankenspirale zu fliehen, nimmt er einen Job als Feuermelder in einem Nationalpark in Wyoming an. Sein Zuhause, ein sehr hoher Aussichtsturm aus Holz, ausgestattet mit dem Nötigsten. Sein einziger sozialer Kontakt ist Delilah, Kollegin und Vorgesetzte, die er über ein Funkgerät kontaktieren kann. Sie sitzt ebenfalls auf einem Hochsitz in einem anderen Gebiet des Parks und beobachtet die Region, um Brände schnell melden zu können und die gewaltige Natur zu schützen. Es ist 1989.

Postkartenidylle

Henrys erste Aufgabe, eine potentielle Feuerstelle ausfindig machen und beseitigen. Also machst du dich auf den Weg, schwingst deinen Rucksack über die Schulter und packst Kompass und Karte ein. Die Wanderkarte ist eine wichtige Orientierungshilfe. An bestimmten Punkten kannst du deine Karte immer wieder aktualisieren. Es beginnt eine erste nette Plauderei mit Delilah, die Anfangs wie ein Hörbuch wirkt, dass dich bei deiner Wandertour durch Wälder und Berge begleitet. Doch anders als bei einem Hörbuch musst du immer wieder auf Delilahs Fragen und Ausführungen antworten. Dies beeinflusst euer Verhältnis über das gesamte Spiel. Während einer Konversation kannst du auch gerne stehenbleiben, dich umschauen. Oft kommst du sowieso nicht weit, weil hinter dem jedem Baumwipfel, der Klippe oder dem See das nächste Postkarten-Motiv auf dich wartet.

Fotomotive im Überfluss, ohne auch nur die kleinste Anstrengung zu verspüren. Wunderbar! Wie ein echter Tourist knipst du jede Szenerie und archivierst sie für die Ewigkeit. Die Festplatte schnauft, egal! Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume legen sich sanft um dein Sofa. Immer wieder wird die wundervolle, farbenfrohe, malerische Umgebung von netten musikalischen Klängen unterlegt. Die Hektik des Alltags weicht einer entspannten Atmosphäre. Noch!

Denn mit fortschreitender Geschichte findet Henry immer wieder mysteriöse Dinge, die er mit Delilah bespricht. Zusammen entwickeln sie Pläne, die zur Auflösung der seltsam wirkenden Umstände führen sollen. Zunehmend wird die Lage angespannter. Das Hörbuch wechselt von der Begleitung in Fokus des Spiels. Gespannt wartest du auf weitere Signale des Funkgerätes und lauscht aufmerksam den Erzählungen deiner einzigen sozialen Quelle. Ereignisse drängen sich in den Vordergrund. Sie erzeugen Gänsehaut. Hast du da eben einen Menschen gesehen? Doch Zeit für Fotos muss auch hier sein. Es ist einfach alles zu schön. Auch wenn dann und wann die Bildwiederholungsrate abfällt.

Die Kunst der Erzählung

Campo Santo haben es geschafft, eine spannende, intensive Geschichte in unglaublicher Schönheit zu verpacken. Sie präsentieren dir eine wunderbare Symbiose aus kunstvoller Optik, interessanter Story und authentischer Geräuschkulisse. Die Eingewöhnung gelingt sehr flott. Es warten keine Heckenschützen in der wunderschönen Szenerie, die du mit ausgebufften Skills zur Strecke bringen musst. Lediglich Interaktionen mit dem Funkgerät, der Karte und Objekten im Nationalpark sind nötig, um in der Story weiterzukommen.

Natürlich darfst du bei all der großartigen Bildgewalt nicht vergessen zu laufen, denn sonst kommst du nirgendwo hin. Aber das kennst du ja vom Wandern. Ohne Bewegung keine Postkartenidylle. Klingt langweilig? Nein, absolut nicht!

Firewatch ist ein interaktives Erlebnis. Es saugt dich tief hinein in die Natur des Parks, lässt dich Pflanzen und Tiere entdecken und genießen. Es füttert dich mit Brotkrümeln, die zu einer Geschichte werden. Es lässt dich einen Menschen kennenlernen. Einen Menschen, der dir ans Herz wächst, dessen Meinungen zählen, den du magst. Allein  über ein Funkgerät. Es vermittelt dir, dass es okay ist zu flüchten, wenn dir Dinge über den Kopf wachsen. Beschäftigst du dich mit Firewatch, beschäftigst du dich mit dir, mit deinen Gefühlen, deinem Forschungsdrang und deiner Art zu kommunizieren. Campo Santo hat ein Kunstwerk aus einem Kunstwerk geschaffen und in Wattebällchen gepackt. Ein Gemälde wird erlebbar.

9/10 <3

Developer: Campo Santo
Publisher: Panic
Directors: Olly Moss, Sean Vanaman
Producers: Gabe McGill, Jane Ng
Designers: Chris Remo, Jake Rodkin, James Benson, Nels Anderson
Artists: Jane Ng, Olly Moss
Release: 9. Februar 2016 (PC, Steam, PS4, Xbox One) / 17. Dezember 2018 (Nintendo Switch)
Auzeichnungen: Best 3D Visual Experience (Unity Awards 2016), Best Indie Game (Golden Joystick Awards 2016), Best Writing (PC Gamer’s Best of 2016), Game of the Year (Polygon’s Best of 2016), Best Independent Game (PlayStation Blog’s Best of 2016), Best Narrative (Game Developers Choice Awards)

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Autorin: Benja Hiller
Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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