What Lies in the Multiverse Review | Funny Little Sad Boy

Der zum Weinen komische Puzzle-Platformer What Lies in the Multiverse schlägt erstaunlich ernste Themen an.

Am Multiversum wurde sich zur Genüge versucht. Nicht nur Marvels mittlerweile ausgelutschte Formel bedient sich der parallelen Welten, auch andere Filme und Serien nutzen die Möglichkeiten, die sich in vielen Universen bieten. Immerhin bekommen Drehbuchautor_innen so mehr künstlerische Freiheit. Charaktere können gut und böse zugleich sein – einfach einen bösen Zwilling in ein paralleles Universum schreiben, fertig. Mein liebster Marvel-Film der letzten Jahre war gar keiner, denn Loki wurde als Serie umgesetzt und befasste sich intensiv mit der Thematik. Loki bereiste seltsame Welten und begegnete Varianten seiner selbst, darunter ein etwa beinlanger Alligator mit goldenen Hörnern. Dem Ganzen ist gegen Ende etwas die Puste ausgegangen, weil der Überraschungseffekt weg war.

In der Realität spekulieren Physiker_innen immer noch, wie und ob ein Multiversum möglich ist. Gibt es mehr als diese eine Wirklichkeit? Aber selbst wenn, die Chance, irgendwo auf einen bösen Zwilling zu treffen, ist eher gering. Wenn Paralleluniversen existieren, dürften sie eigene „Blasen“ mit eigenen Gesetzen darstellen, die mit unserer Vorstellung nicht vereinbar sind. Wie gesagt, ist höchst spekulativ. Wenn wir nicht einmal wissen, ob das Universum unendlich ist, wie sollen wir dann seine Nachbarn suchen? Es bleibt ein Gedankenspiel. Die Zeichentrickserie Rick und Morty ergründet schon seit fünf Staffeln, was in unendlich vielen Welten so alles möglich ist. Toilettenplaneten oder die Religionsgemeinschaft der Plutonisten: Was möglich ist, existiert. Nicht mein Humor, deswegen habe ich nie mehr als die erste Folge gesehen, doch es existiert eine eingefleischte Fangemeinde.

Frodo, mein Junge

Humor ist mein Stichwort. What Lies in the Multiverse bringt mich ab der ersten Sekunde zum Lachen. Schon als Der Junge, der im Spiel immer nur entsprechend genannt wird, noch in seinem Kinderzimmer hockt, bringt mich seine Katze Erwin zum Schmunzeln. Doch dann: Auftritt Everett. Der schrille Zauberphysiker bezeichnet sich selbst als Wissenschaftler, wirkt aber eher wie ein gealterter Magier mit riesigem lila Zylinder und den goldenen Ohrringen. Obwohl er weiße Haare hat und von sich behauptet, schon wohlbetagt zu sein, straft sein sprunghaftes Verhalten ihn Lügen. Seine Gestik ist extrovertiert und lässig. Mit seinem Totenkopfstab wirkt er eher wie ein Möchtegern-Gandalf, der immer überall ist, eine Schwäche für überraschende Auftritte hat und nie ohne einen ganzen Stapel Karten im Ärmel aus dem Haus geht. Wie treffend, dass er eine Schwäche für Kaffee und Glücksspiel hat.

Wenn Everett Gandalf ist, so ist Der Junge Frodo. Ein leicht verwirrter, einfacher Junge, der wie vom Blitz getroffen wirkt, als er das erste Mal mit Everett spricht. Die Begeisterung, die all die schönen Welten in ihm auslösen, wirkt ansteckend und wird vom Spiel mitreißend umgesetzt. An vielen Stellen könnte What Lies in the Multiverse eine raffiniert geschnittene Comedy-Serie sein, so effektiv sind die Sound- und Bildeffekte gesetzt. Ich habe selten während eines Spiels so laut gelacht. Der Slapstick-Humor verfehlt nie sein Ziel und ist stets frisch und überraschend. Zum Beispiel: Nachdem das ungleiche Duo ein Auto „leihen“ konnte, machen sie sich auf den Weg durch eine wildwestartige Wüste. Epische Musik setzt ein, filmartige Einblendungen à la „Regie von“ beginnen, über den Bildschirm zu laufen. RUMMS! Der Überraschungseffekt trifft mich genau zum richtigen Zeitpunkt.

What Lies in the Multiverse? Glücksspiel und Laserknarren!

Dabei verliert What Lies in the Multiverse nie seine Story aus den Augen. Spieler_innen wie auch Der Junge werden zu Beginn bewusst im Dunkeln gelassen. Everett spielt seine Rolle als mysteriöses Genie so lange, wie es eben geht. Bis dann die Gegenspieler_innen auftauchen und die Post so richtig abgeht. Ich genieße die spaßigen Auseinandersetzungen, die Everett nicht ernst zu nehmen scheint – oder ist das auch nur Maskerade? Denn so witzig das Kasperltheater zwischen ihm und den Gegner_innen auch ist, der zugrundeliegende Konflikt ist es nicht. Selbst den Gegenspieler_innen wird eine Hintergrundgeschichte und ernste Gespräche zugestanden. Es kommt der Zeitpunkt, an dem sich der Verdacht aufdrängt, dass die Bösen eigentlich die Guten sind und wir auf der falschen Seite des Gesetzes stehen. Obwohl ich mit Everett sympathisiere, liegen seine Motive weiterhin im Dunkeln.

Es dauert, bis er den Jungen als ernstzunehmenden Assistenten zu schätzen lernt. Obwohl der immer noch als Kanonenfutter herhalten muss, wenn mal wieder eine Plasmapistole auf die beiden gerichtet ist, zeigt Avery im Spielverlauf neue Seiten von sich. Ohne das Gerät, das ihm das Wechseln zwischen den Welten ermöglicht, wirkt er müde, geradezu abgekämpft. Ein Zauberer ohne seinen Zauberstab ist doch nur ein halber Magier, so scheint es. Und es tut beinahe physisch weh, die Mechanik nicht nutzen zu können. Ich bin bisher nicht genau darauf eingegangen, aber mit Everetts Hilfe kann auch Der Junge Universenhopping betreiben. Pro Welt stehen dabei zwei parallele Realitäten zur Verfügung. Sie sind wie Feuer und Wasser, Licht und Schatten: Sie verkörpern Gegensätze und entsprechen meist einer Gegenwart und einer irgendwo existierenden Zukunft.

Leben und am Leben lassen

Diese Zukunftsvision kann hübsch sein, zum Beispiel eine grün bewachsene Stadt, die von der Natur zurückerobert wurde. Doch die meisten Ausblicke sind düster. Mal grassiert eine Zombieapokalypse und lässt alles verrotten, mal vergiftet die Luft alles Leben und ermöglicht dem Jungen nur kurze Aufenthalte. Der Kontrast entspricht einem spielbaren Stillleben in bunter Pixelart: Leben und Tod liegen nur einen Klick getrennt. Personen, die in einer Realität noch munter ihren Aufgaben nachgehen, sind in der anderen blanke Skelette oder zusammengesackte Leichen. Die fröhliche Handlung wählt ernste Kulissen und scheut sich nicht, auch erwachsene Themen anzusprechen. Dokumente, die von Zeitzeugen zurückgelassen werden, geben Aufschluss über das oft bittere Schicksal der Opfer.

Anfangs hält die düstere Stimmung nicht lange an. Es entspricht nur allzu genau Everetts Persönlichkeit, sich der Verantwortung mit einem flotten Spruch auf den Lippen zu entziehen. Sich selbst nicht zu ernst zu nehmen ist ein funktionierendes Erfolgsrezept, das ich nicht müde werde anzupreisen. Wo sonst treten Freund und Feind gleichermaßen mit Konfettikanone und Trötensound auf? Und wo sonst kann ich im Sekundentakt zwischen Utopia und Dystopia wechseln? Dieser Kniff ist kein Sightseeing, sondern der spielerische Reiz des Puzzle-Platformers. Hindernisse, Schalter und Boxen sind oft je nur in einer der beiden Welten vorhanden. Wege, die mir hier offenstehen, sind drüben versperrt. Also schiebe ich Kisten umher, klettere an Seilen empor und wechsele mitten im Sprung die Dimension, um nicht nur leeren Abgrund unter den Füßen zu haben.

Komisch, ganz traurig

An die anfangs seltsame Steuerung habe ich mich mit der Zeit gewöhnt. Das war auch nötig, denn stellenweise wird präzises Springen und Dimensionswechseln von mir gefordert. Jedes Kapitel bringt bezüglich des Puzzelns einen eigenen Kniff mit sich, der das Gehirn frisch hält. So wird Rätselmüdigkeit vermieden. Gerade, wenn ich denke „Jetzt ist aber gut“, passiert etwas Neues und macht das Spielen wieder spannend. Alle Rätsel, wirklich alle, sind mit ein bisschen Nachdenken und Herumprobieren lösbar. Eine solch frustfreie Erfahrung, die sogar meinen Ehrgeiz weckt, habe ich selten. Die wirklich schönen Kulissen machen es mir aber auch leicht. Ich staune und genieße, dass je nach Welt das musikalische Thema variiert und sich der Stimmung anpasst. Und dann kommt ein piependes Piratenschiff im Rückwärtsgang und ich liege wieder lachend am Boden.

Der Bruch in der Geschichte deutet sich an. Wie das Universum mit umgekehrter Schwerkraft stellt sich langsam alles auf den Kopf. Ich war am Ende den Tränen nahe, und diesmal waren es keine Lachtränen. Ich werde nichts vorwegnehmen, aber bitte nehmt euch Zeit für What Lies in the Multiverse. Das Spiel verdient es, dass ihr mit ihm lacht und mit ihm weint. Die Charaktere verdienen es, dass ihr in jeden Winkel kriecht, um alles über sie herauszufinden. Die Umgebungen verdienen es, dass ihr sie bis in die hinterste Ecke erkundet. Es wird euch kaum überraschen, dass ich ihm eine hohe Wertung gebe. In kaum einem Spiel lagen traurig und glücklich, alt und jung, nah und fern, schön und hässlich so nah beieinander. Da lässt sich auch verzeihen, dass manche Passagen einen Tick zu lange dauern. Das Bündel, das Studio Voyager und IguanaBee schnüren, hat mein Leben ein Stückchen besser gemacht.

9/10 🎩 🥲


Developer: Studio Voyager, IguanaBee
Publisher: Untold Tales
Genre: Puzzle-Platformer
Veröffentlichung: 4. März 2022 (Steam, Epic Games Store, GOG, PS5, PS4, XBox, Xbox One und Switch)


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Redakteurin | + posts

Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.

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