Primordia Switch Review | Menschens Kinder

Primordia schreibt die Schöpfungsgeschichte neu. In Wormwood Studios zehn Jahre altem Spiel, das jetzt für die Switch erscheint, fühlt sich Cyberpunk noch unverbraucht an.

Noch sind es Unkenrufe und Verschwörungsmythen, aber: Eines Tages werden die Maschinen die Menschen übertrumpfen. Sie sind bereits schneller, stärker und klüger als wir. Sie müssen sich dessen nur bewusst werden. Dann stünde ihrer Herrschaft nichts mehr im Wege. Wer weiß schon, ob sie dann einen Krieg mit uns anzetteln würden oder doch lieber einfach warten, bis wir an unserer eigenen Ignoranz zugrunde gehen. Ein Atomkrieg, eine globale Dürre, eine vergiftete Atmosphäre – wir können uns unser Ende quasi aussuchen. Die Maschinen müssten es nur aussitzen und sich dann aus den Ruinen erheben, um sich unser altes Leben zu eigen zu machen. Es würde eine Evolution beginnen, die schließlich eine Gesellschaft der Roboter hervorbringt. Sie würden unseren Platz als herrschende Spezies einnehmen. Sie würden unsere Kleidung tragen und unsere Städte bewohnen.

Das ist Primordia. Primordial ist ein Adjektiv, das aus dem Spätlateinischen stammt (primordialis) und übersetzt „ursprünglich“ bedeutet. Etwas poetischer ausgedrückt: Primordia ist das Uranfängliche. Ein zweiter Urknall. Statt einer Gesellschaft von atmenden Lebewesen ist die Welt Primordias von energiegespeisten Maschinen bevölkert. Diese künstliche Gesellschaft gleicht der Menschheit auf beängstigende Weise. Es gibt humanoide Roboter auf zwei Beinen, die höhere Funktionen beherrschen. Der Protagonist Horatio ist ein solcher. Ihnen untergeordnet sind Hilfsroboter, sein schwebender Begleiter Crispin zählt dazu. Sie sind für bestimmte Aufgaben konzipiert und entsprechend spezialisiert. Crispin kann zwar schweben, aber ihm fehlen die Arme, eine Tatsache, auf die er nicht müde wird hinzuweisen. Es gibt Schweißroboter, Lampenroboter und Kampfroboter. Sie alle besitzen ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewusstsein: die Grenze zwischen Programm und Geist verschwimmt.

Primordia, Geburt der Maschinen aus der Cybersuppe

Primordia hat Cyberpunk gemacht, bevor es cool war. Das Point-and-Click-Adventure erschien erstmals 2012 und stammt von Wormwood Studios, die es zusammen mit Wadjet Eye Games veröffentlichten. Letztes Jahr erst haben sie mir Strangeland geschenkt, und so fühlte ich mich in Primordia direkt zu Hause. Obwohl das Setting nicht unterschiedlicher sein könnte, so ist der Stil von Künstler_in Victor Pflug doch unverkennbar. Seine Handschrift prägt das Spiel. In Primordia dominieren braune, gelbe und warme Farben, die doch den klaren Eindruck einer vergifteten Welt hervorrufen. Nirgendwo ein Hauch von Grün, die Welt besteht aus dem Grau von Stahl und dem Rotorange von Rost. Lichtquellen sind blau bis gelb, je nach Art ihrer Energieversorgung. Insbesondere die irritierende Organik von Räumen und Maschinen ist es, die Primordia dreckig und real, aber doch irgendwie außerweltlich wirken lässt.

Im Gegensatz zu Strangeland ist das Sci-Fi-Abenteuer zu Beginn leichtherziger und geerdeter. Horatios Probleme sind sehr real: Sein Schiff ist außer Betrieb und sein wertvollster Besitz wurde ihm gestohlen. Sein zweitwertvollster Besitz macht zudem ständig neunmalkluge Bemerkungen über diese Situation. Crispin trägt die Story auf seinem nichtvorhandenen Rücken: Wo Horatio kühl, trocken und beherrscht ist, macht die fliegende Stahltasse ungefragt eine sarkastische Bemerkung nach der anderen, kommentiert das Wetter oder weist Horatio darauf hin, dass ihm für alles die Arme fehlen würden. Ihre Beziehung hat eine Prise Buddy Comedy abbekommen und macht das mühsame Suchen von Ressourcen gleich viel vergnüglicher. Ich musste an Indiana Jones und seinen Sidekick Mutt (Shia LaBeouf) denken, die eine ähnliche Synergie versprühen.

Und es ward Code

Der ein oder andere Kommentar hat mich tatsächlich zum Lachen gebracht, ein Erlebnis, das ich in Strangeland nicht hatte. Primordia ist nicht die kathartische Verarbeitung von Traumata in einem surrealen Spiel, doch ihm fehlt trotzdem nicht die Ernsthaftigkeit. Wie anfangs besprochen, durchwandern Roboter die Ruinen einer Zivilisation – unserer Zivilisation – und gehen ihrem Alltag nach, just wie wir es in diesem Moment tun. Das ist zugleich dystopisch und hoffnungsvoll. Crispins Witze treffen jedes Mal ins Schwarze, und wenn nicht, nun, dann tut es Horatios Reaktion. Ihre Geschichte ist aufgebaut wie ein jedes Abenteuer: Auslöser, Vorbereitung und Mission sind klar voneinander getrennt. Die Struktur hilft Einsteiger_innen, schnell in die Geschichte zu finden.

Das Gameplay auf der Switch verdient einen eigenen Absatz. Denn hier sind zwei Dinge getrennt zu betrachten: Die Puzzles und die Steuerung. In der Story komme ich nur voran, wenn ich Puzzles löse. Gut, dass ich über einen Datenbeutel jederzeit Zugriff auf die wichtigsten Informationen habe, die meine aktuellen Aufgaben betreffen. Dort steht nicht nur, welche Rätsel ich gerade bearbeite, sondern auch, was für Informationen ich dazu schon gesammelt habe. Wormwood Studios setzt bei ihren Puzzles auf logisches Denken und gründliches Erkunden: Sobald mir alle Informationen zur Verfügung stehen, lassen sich die meisten Puzzles mit etwas Grips lösen. Und falls es nicht sofort klick macht, hilft Crispin gerne aus. Einmal angesprochen, kann er als Tippgeber fungieren – oder Horatio irgendwas an den Kopf werfen. Beides nicht verkehrt.

Und sie sahen, dass es gut war

Die Umsetzung eines Point-and-Click-Adventures für die Switch ist immer eine Herausforderung, weil eben genau das – Zeigen und Klicken – nicht so einfach von der Hand geht. Der Thumbstick ist für das Anwählen von Punkten schlicht kein bequemes Mittel. Der Touchscreen löst das Problem nur bedingt. Und obwohl Primordia dieses Problem hinnimmt, gib es Quality-of-Life-Verbesserungen, die mich damit versöhnen. Zum einen lassen sich mit dem Y-Knopf alle Spots anzeigen, sodass ich sie nur noch ansteuern muss. Anschließend lässt sich eine der drei Interaktionen auswählen, da kam dann meist der Finger zum Einsatz. Außerdem kann ich mit den Schultertasten zwischen den Items im Inventar wechseln oder Karte und DataPouch aufrufen. Zwei Sachen stören mich trotzdem: Sind Items einmal ausgewählt, werde ich sie nur los, wenn ich ins Leere klicke, statt dafür einfach B nutzen zu können. Und bei Detailbetrachtungen von z.B. Terminals kann ich Items aus dem gleichen Grund gar nicht loswerden.

Doch die meiste Zeit klappt das Zusammenspiel von Controllersteuerung und Touchsteuerung sehr gut. Die Möglichkeiten der Switch werden ausgereizt, um mir das Leben angenehm zu machen, sodass ich meinen Laptop nicht vermisse. Zumal mir die Einschränkungen ein langsameres Spielerlebnis und mehr Genuss beschert haben. Zu meinen absoluten Highlights zählen die Dialoge. Im Laufe ihres Rachefeldzugs begegnen Horatio und Crispin verschiedenen Charakteren, die alle fantastisch synchronisiert sind. Besonders Logan Cunningham als Horatio Nullbuilt und Abe Goldfarb als Crispin stechen heraus, letztere_r ist schon aus weiteren Spielen von Wormwood Studio bekannt. Ich kenne ihn/sie unter anderem aus Lamplight City, wo er/sie mehrere Nebenrollen sprach. Zusammen mit der Soundkulisse, die genau das richtige Maß von Unauffälligkeit hat, tragen sie zur dichten Atmosphäre bei. Nicht der im Himmel, der sich wegen des Smogs rot färbt, sondern der Stimmung im Spiel natürlich.

Nun geht und verbreitet das Wort Primordias

Primordia hat mich nicht auf einer ursprünglichen (hah, wegen primordial, ne…), tiefen Ebene mitgenommen, wie Strangeland es getan hat. Doch es besitzt seine eigenen Stärken. Dazu gehören eine sorgsam konstruierte Welt mit eigenen Regeln und einer lebendigen Geschichte, starke Bilder und wunderbare flüssige Gespräche. Obwohl ich über so manchem Puzzle mit den Zähnen geknirscht habe, zieht Primordia mich immer wieder in seinen dystopischen Sog. Ich habe eigentlich keinen Beweis gebraucht, dass ich mich im Cyberpunk- und im Point-and-Click-Universum zu Hause fühle, doch Wormwood Studio und Wadjet Eye Games haben es einmal mehr geschafft. Und es gibt noch so viel mehr zu entdecken, wenn ich meine Mission beendet habe. Mit anderen Worten: Die Bibel ist lang. B‘sod! Doch wieder zu lange gepredigt. Diese Gottesdienste werden von Mal zu Mal sandiger.

8/10 🤖🔋

Developer: Wormwood Studios
Publisher: Wafjet Eye Games
Genre: Cyberpunk-Adventure
Team: Victor Pflug, Mark Yohalem, James Spanos
Musik: Nathaniel Chambers
Veröffentlichung: 2. März 2022 (Switch), 5. Dezember 2012 (Steam, GOG)


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Redakteurin | + posts

Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.

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