Grotto Review | Lies die Zukunft aus längst vergangenen Sternen

Eine Höhle, ein Fitzelchen Sternenhimmel und einige Konstellationen reichen, um das Leben eines Stammes in Grotto auf den Kopf zu stellen.

Mit „Stell dir vor…” fangen beängstigend viele Texte von mir an. Liegt vielleicht an einer unsäglichen Werbung, die mir im Kino tierisch auf die Nerven geht und die ich hier nicht weiter erwähnen möchte. Aber ich möchte ein Szenario in euren Kopf pflanzen, das für meine folgenden Überlegungen die richtigen Bedingungen schafft. Also, tief durchatmen. Ruft euch folgende Situation vor Augen: Ihr greift am Morgen zu eurer Zeitung, die ihr jeden Tag lest und nippt erwartungsvoll an eurem Kaffee. Statt euch die sorgfältig recherchierten und reflektierten Artikel durchzulesen und euch kritische Fragen zu stellen, blättert ihr nach ganz hinten, vorbei am Politikgeschehen, am Sport, an den Rätseln und der Kinderecke. Und studiert stattdessen euer Horoskop, als würde euer Leben davon abhängen. Denn genauso ist es. Statt die Entscheidungen selbst zu treffen, überlasst ihr alle wichtigen Entscheidungen dem Horoskop. Haus kaufen? Tageshoroskop befragen. Heiraten? Ihr versteht den Drill.

Und jetzt überlegt, was gewesen wäre, hätten unsere Vorfahren ihre Entscheidungen derart willkürlich getroffen. Haben die Ägypter die Pyramiden vielleicht nur gebaut, weil irgendein Seher in den Sanden der Wüste herausgelesen hat, dass solch monumentale Bauwerke seine Herren ins Jenseits geleiten? Oder hat Christoph Columbus seine Segel Richtung Indien gesetzt, weil seine Sterne ihm Glück und Reichtum verhießen? Ich hoffe nicht. Aber genau das ist der Fall in Grotto, und es kommt noch dicker, ich bin nämlich selbst das Horoskop. Statt der Weisheit letzter Schluss bekommen die armen Ratsuchenden meine unreifen Ideen, was aus den Sternen herauszulesen sei. Ich bin nämlich auch nur ein Mensch und verfüge entsprechend über begrenzte Ressourcen, ein Firmament voller ferner selbstleuchtender Himmelskörper zu deuten.

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Aber von vorne. In Grotto ist eine Höhle im Berg von einem Tag auf den anderen mit einem Wahrsagenden besetzt. Diese Grotte, falls die Geologin sie so nennen kann, ist dunkel, nur das grünlich flackernde Feuer und ein einzelner Sternenstrahl erhellen das karge Steingewölbe (da das Merkmal von Grotten ist, dass sie feucht sind, trifft diese Bezeichnung zu – in den Pfützen auf dem Boden spiegelt sich das Sternenlicht). Das ist mein neues Zuhause, und kaum bin ich angekommen, verbreitet sich die Kunde von dem mysteriösen Neuankömmling. Mitglieder eines nahe gelegenen Stammes suchen mich auf und fragen um Rat. Bei ihnen handelt es sich um anthropomorphe Tierwesen, die mit Schmuck und rituellen Gegenständen behangen und in lederne Gewänder gehüllt sind. So majestätisch, wie das klingt, sind sie aber nicht. Tatsächlich sind das Wesen wie du und ich, die ganz und gar… menschliche… Bedürfnisse haben. Ich weiß, die Ironie.

Jene Wesen fragen mich nun um Rat zu einer Situation, die ich nie selbst erlebt habe. Ich bekomme die stark persönlich gefärbte Erzählung eines jeden Besuchenden und werde im Anschluss gebeten, ihnen einen Rat zu geben, indem ich die Sterne befrage. Das tue ich im hinteren Teil der Höhle, wo ich durch ein kleines Loch in den Himmel spähe. Die Sterne kann ich zu Sternbildern verbinden, die anschließend an der Höhlenwand auftauchen. Dort steht neben dem Namen (zum Beispiel der Elch) auch ein kurzes, kryptisches Bonmot zum jeweiligen Symbol. Dieses dient zur Orientierung, welche Bedeutung das Sternbild annehmen kann. Beispielsweise stehen sich ein aktiver und ein schlafender Vulkan in ihrer Bedeutung gegenüber: Einer schlummert und verbirgt seine Kraft tief in seinem Bauch, der andere sprüht vor Wut und Zerstörungswille. So zumindest meine Schlussfolgerung, denn die kurzen Zitate sind eine Mischung aus Kalenderspruch und dem zweifelhaften Werk eines betrunkenen Poeten.

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Und es ist meine Aufgabe, jedem Bittstellenden eine passende Antwort zu geben, indem ich ein Sternbild auswähle. Die Chance, misszuverstehen oder missverstanden zu werden, ist riesig. Entweder ich lese in das Sternbild eine Bedeutung hinein, die mein Gegenüber nicht sieht oder ich sehe eine versteckte, aber offensichtliche Bedeutung nicht, die plötzlich meine Antwort ins Gegenteil verkehrt. So wollte ich, gefragt nach einem Handelsgut, mit dem Hasen antworten, doch die Händlerin verstand das als Aufforderung zur Flucht. Verständlich, doch hatte ich in genau einer solchen Situation einmal versucht, mit abstrakter Bildsprache etwas zu erreichen und mein Gegenüber nahm meine Antwort stattdessen für bare Münze. Kein Wunder, dass Wahrsager_innen stets in Symbolen sprechen, sie verraten niemals all ihre Geheimnisse. Ich hätte wohl stärker auf meine Klient_innen und ihre Denkweise eingehen müssen.

Und doch bin ich es, die von den Stammesangehörigen aufgesucht wird. Ihr Chief macht den Anfang, ein weises und umsichtiges Oberhaupt, doch sein plötzlicher Tod wirbelt die Hierarchie und die gesamte Gesellschaft durcheinander. Es bleibt an mir hängen, den verwirrten Stammesangehörigen Orientierung zu bieten und Entscheidungen zu treffen, die sich nicht in richtig und falsch einteilen lassen. Denn der Stamm folgt seit Generationen seinen Traditionen, die von den Ältesten an die Jüngeren weitergegeben werden. Diese Traditionen sind barbarisch, primitiv, brutal und erbarmungslos. Aber sie ergeben auf eine verdrehte Art Sinn, im Sinne des Stammes und seines Überlebens. Ich verstehe, warum sie existieren, doch kann ich meinem verzweifelten Gegenüber seine Menschlichkeit (with a pinch of salt) nicht absprechen. Ich bin bereit, für das Wohl des Einzelnen Zugeständnisse zu machen und damit den ganzen Stamm ins Chaos zu stürzen.

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Denn was geschieht, wenn mit Traditionen gebrochen wird? Unsicherheit breitet sich aus. Zweifel an den Autoritäten, ein Zweifel, der statt auf mich aufeinander projiziert wird. Gegenseitige Missgunst überwiegt das kritische Hinterfragen vager Prophezeiungen. Denn am Ende bin ich der Quell all der missgeleiteten Aktionen, weil ich meine eigene Sprache nicht spreche. Und selbst wenn ich es täte, so bliebe es dabei, dass ich als Horoskop nichts tauge. Ich entscheide aus dem Bauch heraus, mal zugunsten einzelner und mal zugunsten einer ganzen Gruppe. Doch ich stehe auf keiner Seite, will weder die Traditionen um jeden Preis wahren noch eine Revolution vom Zaun brechen. Doch was tun, wenn mich beide Seiten um Rat fragen? Wie kann ich jeden Besuchenden ermutigen, einem Pfad zu folgen, der andere ins Verderben stürzen könnte?

Und über allem schwebt eine körperlose Stimme, die mit mir zu sprechen scheint. This is a story about change. Ja, es ist eine Veränderung, die dort vor sich geht, doch scheine ich an Fäden zu ziehen, deren Ende ich nicht sehe. Die Entität, die mich umgibt, weiß. Sie lässt mich gewähren als Wahrsagerin, obwohl mir die Weitsicht fehlt. Vielleicht weiß sie, dass Menschen letzten Endes doch ihre eigenen Entscheidungen treffen. Dass sie nur zu mir kommen, um sich bestätigt zu sehen oder um eine schwierige Entscheidung abgenommen zu bekommen. Dass die Sterne nur so weise sind wie die Menschen, die sie deuten. Grotto ist eine Geschichte über Veränderung, das ist wahr. Es ist eine Geschichte über eine Gemeinschaft, die vor Entscheidungen steht und Entwicklungen erfährt. Ich bin nur der Katalysator, der den Prozess beschleunigt.

Grotto oder Der Sternenuntergang

Und je länger ich spiele, desto brutaler werden die Entscheidungen. Ohne viel vorwegzugreifen, geht es um Opfer und Täter, um Hass und Reue, um Angst und Mut, um Vertrauen und Unterdrückung. Dieses Spiel hat es geschafft, mich mehr als einmal an den Rande der Verzweiflung zu bringen, weil ich zur blinden Scharfrichterin eines Volks voller gutgläubiger, verunsicherter Tierwesen wurde, die den Fehler gemacht hatten, mich um Rat zu fragen und mir dennoch ebenso blind vertrauten. Die Geschichte nahm subtil die Kurve zur Religionskritik und führte mir mehr als deutlich vor Augen, wie bestimmend diese über das Schicksal eines Volkes sein kann – im Guten wie im Schlechten. Vielleicht haben die Ägypter tatsächlich geglaubt, dass ihr Totengott durch die Pyramiden mit den quadratischen Grundflächen, deren Kanten exakt an den Himmelsrichtungen ausgerichtet ist, besänftigt wird? Und sicherlich glaubten die Azteken, dass Menschenopfer sie näher an die Göttlichkeit brächten.

All das führt nicht gerade dazu, dass ich ruhigen Gewissens schlafen gehe. Nachts verfolgen die Wahrsagerin Personen und das, was sie zu ihr gesagt haben. Developer Brainwash Gang wird der Erwartung gerecht, ein emotionales Abenteuer ohne viel Erklärung so eindrücklich zu gestalten, dass es mir wirklich nahegeht. Selten habe ich mich nach einem Spiel so schlecht gefühlt, so verantwortlich, so beschränkt. Ich reflektiere meine Taten, als wären sie höchst real, weil das Spiel mich vollständig in eine Situation versetzt. Und noch etwas ist mir positiv aufgefallen: Selbst die traditionsbewusstesten Stammesangehörigen gendern nicht, sondern sprechen über Andere mit dem neutralen „Ey“ (entspricht dem englischen „they“, was in der Einzahl statt he oder she benutzt wird). Davon kann sich selbst unsere horoskoplesende, demokratische Wohlstandsgesellschaft noch eine Scheibe abschneiden.

9/10 🦴 🌟

Developer: Brainwash Gang
Publisher: Digerati
Genre: Narrative, Simulation
Musik: Beicoli
Veröffentlichung: 26.Oktober 2021 (Steam, GOG)


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Redakteurin | + posts

Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.

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