Lucas Pope hat mit Return Of The Obra Dinn ganz allein ein Meisterwerk geschaffen und seinen Prozess dokumentiert.
Es sind die kleinen Details, die ein gutes Spiel von einem perfekten unterscheiden. Und wie Entwickler Lucas Pope in einem seiner Devlog-Blogposts völlig richtig feststellte, birgt es eine gewisse Tragik, wenn die Spieler_innen diese Detailfülle als selbstverständlich und gegeben wahrnehmen. Die „Rückkehr des Guten Schiffs Obra Dinn“ – so der Titel des Dokuments, das ich als Ermittler_in in die Hände bekomme – ist vollgepackt mit derlei Details. Die Arbeit hinter den Kulissen beginnt noch bevor ich an Bord des treibenden Segelschiffes komme. In dem Beiboot, das mich zur Obra Dinn bringt, schwankt alles auf und ab, die Wellen klatschen gegen den Bug, die Ruder knarzen in den Dollen. Nicht, dass ich das tatsächlich sehen würde, aber ich höre es. Der auditive Eindruck ist so intensiv, dass er das Sichtbare um Unsichtbares ergänzt.
Ich habe mal ein Blindenmuseum in Hamburg besucht, bei dem den nicht-sehbehinderten Besucher_innen eine schwarze Augenbinde umgebunden wurde. Ich konnte nichts sehen, sondern war zur Fortbewegung auf einen Blindenstock angewiesen. Meine Sinne waren auf Gehör- und Geruchssinn reduziert. Und doch zählt diese Handvoll Erinnerungen zu den intensivsten Eindrücken, die ich von dieser ganzen Klassenfahrt übrighabe. Wir saßen auf einem kleinen Boot, und um uns herum toste die See. Keine echte, Gott bewahre, aber eine mittelmäßig gut imitierte. Uns spritzte sogar etwas Gischt entgegen, was das Museum quasi zu einer 4D-Erfahrung machte. Ich sehe diese Räume, jeder thematisch gestaltet, heute noch vor mir, dabei habe ich sie nie mit meinen Augen gesehen. Ich musste mit meinen Ohren sehen, und ich habe einen Eindruck bekommen, welch eine Leistung das in unserer lauten Welt sein muss.
Neverending Ropes
Und jetzt schaukeln wir in einer Nussschale im Seegang neben der großen Obra Dinn, die sich nicht so stark bewegt wie unser winziges Beiboot. Ihr Wiegen ist sanfter, ein gemächliches Rollen im Rhythmus der See. Ich erklimme das Deck und verschwende keine Sekunde an den Schweiß, der in die Animation der Hand geflossen ist. Dabei hat Lucas Pope Wochen an Arbeit investiert, nur um die eine Hand realistisch zu gestalten. Für jene Sequenz hat er sie gespiegelt, sodass beide Hände mich an Bord ziehen. Sie ergreifen die Balken, die als Sprossen einer Leiter herhalten, bis ich über die Reling steige. Meinen Charakter bekomme ich nicht zu Gesicht, auch meine behandschuhten Hände verraten keine Details über mein Aussehen. Selbst mein Geschlecht ist nicht festgelegt: Die Synchronstimme der wenigen Sätze, die meine Figur spricht, können variieren. Das ist mir erst im zweiten Durchlauf aufgefallen.
An Deck des geisterhaft leeren Schiffs angekommen, schaue ich mich um. Wieder erwartet mich eine Detailfülle, die ich unmöglich in seiner Komplexität erfassen kann. Ich sehe die aufgerollten Taue, weiß aber nicht, dass Entwickler Lucas Pope extra ein Skript geschrieben hat, damit sich die widerspenstigen Taue wie solche verhalten. Auf echten Schiffen sind überall Taue, sie sind der Klebstoff, der das viele Holz beisammenhält. Auch auf der Obra Dinn finden sich eine Menge Taue, die beispielsweise Stühle an Pfosten fesseln. Mit dem Geschlängel der Seile nicht genug, auch die sanft im Wind flatternde Takelage musste Stück für Stück animiert werden. Seile sind für Entwickler_innen wohl so etwas wie Hände für Künstler_innen: Jede_r weiß, wie es aussieht, aber es zu reproduzieren stellt sich als Sisyphusarbeit heraus, da keine passende Vorlage existierte. Und das speziell geschriebene Skript soll möglichst noch so simpel sein, dass auch Krückencomputer es bewältigen können.
Dunkel war’s, der Mond schien helle
Und wie das immer ist: Eine Menge der Arbeit, die anfangs hineingesteckt wird, erweist sich später als überflüssig. Return Of The Obra Dinn war als Halbjahresprojekt geplant. Es sind vier Jahre geworden, was für einen perfektionistischen Solo-Entwickler angesichts des Umfangs und der ambitionierten Herangehensweise eine immens kurze Zeit ist. Aber Lucas Pope ist Perfektionist und macht keine halben Sachen. Sein mühsam improvisiertes Tau-Skript geriet schnell an die Grenzen der Belastbarkeit, da die Obra Dinn sich über die Zeit verändern muss und beispielsweise Crew-Mitglieder in der Takelage herumkraxeln. Also hat er nachgegeben und die Vollversion eines Programms gekauft, auf die er dann seine bisherige Arbeit portiert hat. Ich muss kaum erwähnen, dass dabei viel Porzellan zu Bruch gegangen ist. So konnte er die bereits sorgsam entworfene Beleuchtung in die Tonne treten und musste selbst eine Alternative programmieren.
Licht verhält sich dynamisch. An Land mag das nicht auffallen, da Häuser selten durch die Gegend spazieren. Schiffe sind eine andere Hausnummer. Auf der Obra Dinn ist ständig Nacht, und nur der Vollmond erhellt das Deck. Das bedeutet aber auch, dass in den unteren Decks nicht mehr viel Licht ankommt. Es scheint allerdings durch jedes Fenster und bewegt sich mit dem Seegang, was einen immensen Datenumsatz erzeugt. Dafür gibt es keine vorgefertigten Lösungen, Pope musste selbst eine Lightmap* programmieren. Anfangs arbeitete er zudem noch mit Lampen, die die Spieler_innen an- und ausschalten konnten, das hat er allerdings aufgegeben. Mit dem bewusst gewählten hochaufgelösten 1-Bit-Stil*² kommt automatisch der Vorteil, dass selbst in absoluter Dunkelheit noch alles klar zu erkennen ist. Denn die Umrisse sind auch ohne Lichtquelle weiß. Dadurch ist selbst auf dem untersten Cargodeck noch jede Struktur sichtbar.
Tanzende Pixel
Apropos 1-Bit-Stil: Den hat Lucas Pope vor allem aus nostalgischen Gründen gewählt. Er bringt allerdings auch den Vorteil mit sich, dass aus einem extrem blutigen und brutalen Spiel eines wird, das jede_r ohne Bedenken spielen kann (nur bitte nicht die Kinder, danke). Die Gewaltdarstellung wird derart stilisiert und heruntergebrochen, dass ich nicht mehr intuitiv zurückschrecke. Doch selbst in solch einer reduzierten Grafik stecken Wochen an Ausarbeitung. Der pixelige Look wird erst im Rendering durch Reduktion einer höheren Auflösung erzeugt. Und es gibt zahlreiche Varianten, die unterschiedliche Ergebnisse liefern. Zumal der Stil dem Gameplay nicht im Weg stehen darf, was darin endete, dass Charaktere und die Umgebung auf unterschiedliche Art gerendert werden. So gehen Details nicht verloren, die zur Aufklärung der Geschichte nötig sind. Das festzustellen war ein Prozess, der ohne das Feedback von Spieler_innen der Alpha-Version und erster Demos nicht möglich gewesen wäre.
Final ist Return Of The Obra Dinn im 800×450 1-Bit-Style spielbar, der aus einem 8-Bit-Bild*³ berechnet wird. Dazu nutzt Pope zwei Muster: Eine Bayer-Matrix und ein Blue-Noise Pattern. Um es ganz grob herunterzubrechen: Beide erzeugen eine Unregelmäßigkeit in Oberflächen und geben den Gegenständen eine Struktur. Wikipedia nennt diesen Vorgang eine Fehlerdiffusion, das Bildern mit geringer Farbtiefe die Illusion ebenjener gibt. Allerdings erzeugt das Dithering (eine absichtlich angewendete Form von Rauschen) ein Problem bei der Bewegung, da das Bild quasi zu schwimmen beginnt. Ich erspare euch die technischen Details, wie Pope das umgangen hat, aber ich zitiere ihn an dieser Stelle: „Es fühlt sich irgendwie seltsam an, über hundert Stunden Arbeit in etwas zu stecken, das nicht für seine Abwesenheit bemerkt wird. Genau niemand wird sich denken: ‚Wow wie stabil ist das Dithering, echte Magie!‘“ Obwohl ich rein gar nichts von Rendering verstehe, verdient das meinen allergrößten Respekt.
Verschollen auf See, 1803 DAS GUTE SCHIFF “OBRA DINN“
Und ich habe nicht einmal angefangen, über den Schauplatz selbst zu sprechen. Die Obra Dinn ist fiktiv und keine direkte Kopie eines historischen Schiffes. Vielmehr stellt sie einen Flickenteppich vieler Segelschiffe aus dem späten 18. Jahrhundert dar. Ganz grob ähnelt sie der HMS Leopard, ein Dreimaster der britischen Flotte aus dem frühen 19. Jahrhundert. H.M.S. steht übrigens für His/Her Majesty’s Ship, also das Schiff seiner/ihrer Majestät. Wie die Obra Dinn war auch die Leopard mit Kanonen ausgestattet. Aber Lucas Pope hat die Obra Dinn an seine Bedürfnisse angepasst und musste dabei Zugeständnisse machen. Beispielsweise sind normalerweise aus Stabilitätsgründen die Decks leicht gebogen, aber das führt zu einer Unzahl an Problemen beim Programmieren. Ein platziertes Objekt müsste individuell an den Untergrund angepasst werden, statt auf einem ebenen Gitternetz umhergeschoben zu werden. Darum hat Pope darauf verzichtet.
Relativ akkurat ist dagegen das Heck, das mit Fenstern und begehbaren Balkonen geschmückt ist. Wie bei echten Schiffen sind diese seltsam verzerrt, eine Konsequenz der Bauweise, die Lucas Pope der Authentizität halber übernommen hat. Dazu hat er einfach eine rechtwinklige Fensterfront gebaut und diese mithilfe eines Gitters verzerrt. Das bekomme ich zwar nur von innen zu sehen, doch es kommt auf den großen Stapel von kleinen Details an, die sich richtig anfühlen. Bis ins untere Cargo-Deck hinab ist die Obra Dinn detailgetreu rekonstruiert und im Verlaufe des Spiels voll zugänglich. Doch bleiben wir kurz an Deck. Was braucht ein Schiff auf den Wellen? Richtig, Seegang. Wer kurz innehält, wird eine sanfte Bewegung wahrnehmen, die an Seegang erinnert. Doch statt ein schaukelndes Schiff zu implementieren, bewegt sich alles rund um das Schiff. Das hat den simplen Vorteil, dass nicht die Lage jedes einzelnen Gegenstands ständig neu berechnet werden muss.
Was nicht passt, wird passend gemacht!
Doch wenn ich ein Schiff mit kompletter Takelage, Decks, Kabinen und Kanonen habe, habe ich immer noch keine Crew, keinen Sound, keine Story und keine Musik. Die Crew der Obra Dinn besteht aus 86 individuell gestalteten Personen, von denen fast alle detailliert modelliert sind. Dazu hat Lucas Pope Kleidung von Seeleuten aus der Zeit herangezogen und jedem Charakter ein Outfit maßgeschneidert. Das wurde dann, sofern nötig, modelliert und an die jeweilige Pose angepasst. Auch die Gesichter hat der Entwickler selbst gestaltet, alle 86. Sie finden sich in einer Übersichtsskizze, die er nach erfolglosen Versuchen mit mehreren Artists in wochenlanger Arbeit selbst gezeichnet hat. Das nenne ich Hingabe. Im finalen Spiel ist nicht zu erahnen, dass Pope sich mehr als Ingenieur denn als Künstler sieht, seine Fähigkeiten als mittelmäßig bezeichnet und eigentlich am liebsten Code schreibt.
Es hat sich eben schon einmal angedeutet: Lucas Pope arbeitet nicht zielgerichtet. Er beginnt mit großer Liebe zum Detail eine Vision umzusetzen und fängt einfach an einer Stelle an, springt dann zur nächsten und nähert sich so einem nebulösen Ziel. Dabei bringt er sich selbst Dinge bei, umgeht Probleme mit aufwendigen Lösungen, muss ständig mit alten Problemen fertigwerden und verbiegt Programmmechaniken bis zur Belastungsgrenze. Statt sich ein klares Ziel zu setzen, arbeitet er an allen Fronten gleichzeitig. Sein trockener Kommentar dazu: „Es scheint härter, das ganze Paket zu verstehen, als versöhnliche Werkzeuge zu bauen, die mich entspannt weiter arbeiten lassen.” Ich habe den jahrelangen Prozess hin zum finalen Produkt höchstens gestreift und bin umso beeindruckter vom Ergebnis. Insbesondere, wenn ich die Augen schließe und einfach mal zuhöre.
Wer sich der Praxis hingibt ohne Wissenschaft, ist wie der Steuermann, der ein Schiff ohne Ruder und Kompaß besteigt (Leonardo Da Vinci)
Der komplette Soundtrack stammt von Lucas Pope höchstpersönlich. Obwohl er klingt, als säße ein ganzes Orchester in jeder einzelnen Szenerie, just außerhalb meines Sichtfelds, ist er vollständig am Computer entstanden. Das ist bemerkenswert. Ich finde, der Soundtrack ist einer der besten überhaupt. Jedes Stück besitzt einen eigenen Charakter und ist für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich hatte tagelang einen Ohrwurm von „Escape“, dessen Orgelmelodie ich überall erkennen würde. Das ist Genialität, und ich greife nicht zu hoch, wenn ich Lucas Pope als Leonardo Da Vinci der Developer-Szene bezeichne. Der einzige Punkt, wo er auf Hilfe von außen angewiesen war, sind die Synchronsprecher_innen. Wenig überraschend ist es nicht möglich alle Rollen selbst zu sprechen. Die Sprecher_innen sind alle online rekrutiert und ich ziehe meinen Hut vor dem überwältigenden Ergebnis, bei dem sich in jeder Szene alle Stimmen organisch ineinanderfügen.
Im Spiel sind 29 Sprecher_innenrollen an Sprecher_innen mit 14 Nationalitäten vergeben. Sogar auf dieses kleine Detail hat Pope geachtet, um das Gameplay unsichtbar zu unterstützen. Es hilft mir bei meiner Ermittlungsarbeit, wenn ich in der Lage bin, einen Akzent oder einen Ausruf in einer Sprache wie etwa Schwedisch zuzuordnen. So kann ich einige Personen nur anhand eines Satzes identifizieren. Das schlägt den Bogen zurück zum Blindenmuseum. Jeder Flashback beginnt mit einer kurzen Sequenz, in der ich nur zuhöre. Mal wird gesprochen, mal höre ich Knochen brechen, mal fällt ein Schuss. Die Richtung, aus der Gespräche kommen, geben Aufschluss darüber, wer im darauffolgenden Moment gesprochen hat (als Moment bezeichnet Pope die eingefrorenen Flashback-Szenerien). Die Foley-Sounds stammen aus Soundbibliotheken und wurden in einer Art Audioblase arrangiert, damit Spieler_innen je nach Position auf dem Schiff immer genau das Richtige hören.
Alle Mann von Bord!
Nach über vier Jahren war 2018 das Projekt fertig, das auch Crunch-Phasen (Überstunden) beinhaltet hat. Lucas Pope hat eine Menge daraus gelernt, nicht nur, was die von ihm gemeisterten Programme angeht. Auch seine Arbeitsweise hat er optimiert, indem er sich für jeden Monat ein Oberthema vorgenommen hat, an dem er arbeiten will. Damit vermeidet er das Herumspringen zwischen einzelnen Baustellen. Außerdem konnte er dank des Erfolgs von Papers, Please mehr Geld in die Hand nehmen als viele andere Solo-Entwickler_innen. Falscher Geiz rächte sich früher oder später. Für seine perfekte Vision war ihm alles recht. Außerdem hat er sehr gute Erfahrungen mit der Community gemacht, die ihn bei Fragen zur Seite stand und seinen befangenen Blick auf Spielmechaniken für mögliche Probleme geschärft hat.
Über das Gameplay und die Story habe ich nicht gesprochen. Das liegt daran, dass die Story bereits zu Anfang feststand und sich am Gameplay wenig getan hat. Außer dem Buch, das erst spät eingeführt wurde (zum Glück!), ist wenig an der zentralen Mechanik poliert worden. Die Tür, die aus den Momenten führt, ist beispielsweise ein Produkt der Erkenntnis, dass Spieler_innen geführt werden müssen. Ebenso die Phantomleichen, zu denen ich nun explizit hingeführt werde. Und die Vignettierung in den Momenten begrenzt den Bereich, den ich betreten kann. Kein Fluch, eher ein Segen für Entwickler_innen, das musste auch Pope feststellen. Dennoch hat er es wie kein Zweiter geschafft, seine Vision umzusetzen. Es ist kein Zufall, dass ich komplett im Spiel versinken und ohne Probleme acht Stunden darin verbringen kann. Es war ein Fest, das Dev-Log zu lesen und so dem Werden eines Meisterwerks beizuwohnen.
Return of the Obra Dinn auf Steam
(Bild-)quellen: forum.tigsource.com, YouTube (dukope1)
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Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.