The Vale: Shadow of the Crown Review | I don‘t know what red looks like

The Vale lässt mich meine Augen schließen und nur mit meinem Gehör eine dichte Geschichte erleben.

Wann wart ihr das letzte Mal in der Situation, dass ihr euch komplett auf eure Ohren verlassen musstet, weil eure Augen euch nichts nützten? Ich wette, das ist schon lange her – falls es überhaupt einmal vorgekommen ist. Dabei wird die Umgebung über das Gehör viel intensiver wahrgenommen. Bitte werdet euch bewusst, dass ihr diesen Artikel gerade lest und eure Augen dafür quer über den Bildschirm wandern. Was hört ihr, wenn ihr sie für einen Augenblick schließt und einfach nur in die Dunkelheit lauscht? – – – Woher kommen die Geräusche, wie laut sind sie? Hört ihr vielleicht Musik, ohne sie wirklich wahrzunehmen? Euch umgibt ein zarter, unsichtbarer Klangteppich voller subtiler Informationen, die unbewusst eure Umwelt erweitern. Vielleicht könnt ihr die Straße nicht sehen, aber ihr könnt das stetige Rauschen und gelegentliche Hupen der Autos hören. Oder die Sirenen, wenn das alltägliche Dahinkriechen plötzlich ins Stocken gerät.

Macht euch bewusst, wie viel von eurer Umwelt von den Augen abhängig ist. Der Postverkehr. Schilder, Ampeln, Busfahrpläne. Der flüchtige Blick auf die Uhr. Das Lächeln der Bäckersfrau, die euch eure Wunschbrötchen in die Tüte packt, weil sie so appetitlich aussehen. Die Preisschilder im Supermarkt, die Ordnung in das organisierte Chaos bringen. Der schnelle Frisurencheck im Spiegel. Diese Liste ist endlos, und ich habe bewusst nur Aspekte aufgezählt, die sich nur schwer mit Hilfssoftware umgehen lassen. Es ist möglich, sich diesen Text von einer computergenerierten Stimme vorlesen zu lassen, und auch Smartphones kommen mittlerweile mit Unterstützung für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen. Die Teilnahme am Straßenverkehr und die Orientierung in der Öffentlichkeit ist für Menschen, die keine Möglichkeit haben, ihre Umwelt visuell einzuordnen, nicht ausgerichtet und damit nur unter erschwerten Bedingungen möglich.

“What do you see? – My stupidity to follow you down here.”

The Vale: Shadow of the Crown ist kein gewöhnliches Game, und meine Einleitung war nicht bloß zum Spaß. Stattdessen führt es subtil zu der Einzigartigkeit eines Spiels, das sich nur mithilfe des Gehörs spielen lässt. Alles, was normalerweise ein hübsch designtes Menü wäre, ist in The Vale in englischer Sprache vertont. Eine Stimme erklärt mir, mit welchen Tasten ich mich durch die Optionen klicken kann. Unwillkürlich öffne ich die Augen, dabei hatte ich mir vorgenommen, The Vale mit geschlossenen Augen durchzuspielen. Aber ich stelle schnell fest, dass ich Schwierigkeiten habe, die Tasten meiner Tastatur korrekt zu identifizieren. Dabei brauche ich nur WASD, die Pfeiltasten und die Leertaste sowie Alt. Mir fällt zum ersten Mal auf, dass sich auf dem W eine kleine Erhebung befindet, die es mir ermöglicht, die Taste zu er-tasten.

Ich lege meine Finger sorgfältig auf die Tastatur und schließe die Augen. Auf dem Bildschirm tanzen bunte Punkte vor schwarzem Hintergrund, aber ich sehe sie nicht. Mein Geist ist fokussiert auf die Informationen, die mir die dichte Klangkulisse verrät. Was mir direkt auffällt: Mangels optischen Eindrucks verfestigt sich direkt ein Bild der Charaktere vor meinem inneren Auge. Statt eines flüchtigen Blicks auf ein Gesicht erhasche ich sozusagen einen Blick auf die Persönlichkeit. The Vale ist zwangsläufig komplett und glücklicherweise exzellent vertont. Jede Stimme ist leicht von anderen zu unterscheiden und transportiert mit Leichtigkeit, was normalerweise mittels Mimik erschlagen würde. Alex, der weibliche Hauptcharakter, wächst mir innerhalb weniger Sekunden ans Herz, da sie als blinde Prinzessin hart für jegliche Anerkennung kämpfen muss. Und ich erlebe ihre Hilflosigkeit, als ihre Welt plötzlich kopfsteht und sie sich allein im Feindesland wiederfindet.

„In the dark you shine, Alex. Trust me.”

Dabei ist Alex keinesfalls hilflos. Dank ihres Gehörs kann sie sich nicht nur orientieren, sondern sogar mit Waffen kämpfen. Anhand der Richtung erkenne ich, woher ein Angriff kommt, das Klangbild verrät mir, wie ich ihn abwehren muss. Ich muss kaum erwähnen, dass das fantastisch klingt. Das Donnern eines Schwerts auf mein Schild, das Sirren von Pfeilen oder die unruhige Flugbahn einer Axt sind leicht auseinanderzuhalten und ermöglichen es mir, Angriffe abzuwehren und flink zu kontern. Die Waffen, die ich dabei nutze, kann ich bei Schmieden käuflich erwerben. Jetzt fragt ihr euch zurecht: Aber wie finde ich Schmiede? Die sind schließlich in Dörfern und die sind nicht gerade dicht gesät. Völlig richtig. Zum Glück steht mir mit einem hilfsbereiten Schäfer ein ebenso fähiger wie treuer Begleiter zur Seite, der für die Orientierung sorgt, die ich selbst nicht leisten kann.

In Dörfern angekommen, souffliert er mir die Sicht der Sehenden. Anhand von Geräuschen kann ich Geschäfte oder Zielorte ausmachen und selbstständig besuchen. Den Schmied finde ich anhand des unverwechselbaren Geräusches von einem Hammer auf einem schmiedeeisernen Amboss. Das funktioniert zuverlässig, sobald ich mich daran gewöhnt habe, dem Geräusch eine Richtung zuzuordnen. In Kämpfen kann das durchaus zur Herausforderung werden, gerade, wenn mehrere Gegner angreifen und im Hintergrund weitere Schlachtgeräusche zu hören sind. Angriffe erfolgen stets aus drei möglichen Richtungen, aber nie gleichzeitig. Auch der Kampf wird mithilfe von WASD, den Pfeiltasten und später auch Leertaste und Alt-Taste gesteuert, alle Tasten sind also je nach Situation doppelt besetzt. Ein Kampf ist dank abgegrenzter Musik klar als solcher zu erkennen, was auch das gedankliche „Umschalten“ erleichtert.

The Vale: Von den Borderlands bis nach Glades

Gleiches gilt übrigens für die Rückblenden, die quasi als Tutorials fungieren. In ihnen wird Alex das Kämpfen mit Schwert und Schild und das Bogenschießen beigebracht. Außerdem erfahre ich mehr über ihr Leben am Hof und ihre Verwandtschaft, die sie so verzweifelt sucht. Auch die Ausflüge in die Vergangenheit sind klanglich als solche zu erkennen, eine wahre Meisterleistung der subtilen Soundgestaltung. Klar, The Vale verzichtet vollständig auf Grafik, darum muss alles an der Synchronisation und dem Sounddesign perfekt sein, und ich gebe unumwunden zu: Das ist überragend gelungen. Die Dialoge fühlen sich greifbar echt an, ich bin den Charakteren direkt verbunden und habe in Kämpfen den Eindruck, meinen eigenen Körper mit den Händen auf der Tastatur zu verlassen und stattdessen Alex‘ Schwerthand zu führen. Die Grenzen meiner Realität verschwimmen mit der des Spiels. Laut einer verlässlichen Quelle habe ich während der Kämpfe auch alle Arten von Geräuschen von mir gegeben.

Und Kämpfen ist des Öfteren notwendig, um meine Haut zu retten. Alex und der Schäfer reisen durch fremdes Gebiet und begegnen unterwegs allerlei Feinden, die nichts Gutes im Schilde führen. Die stringent erzählte Geschichte wird so durch (je nach Schwierigkeitsgrad unterschiedlich anspruchsvolle) Scharmützel aufgelockert. Außerdem kann Alex in Tavernen Aufträge annehmen, um Geld zu verdienen. Das braucht sie, um ihre zusammengewürfelte Ausrüstung aufzubessern. Oft genug stehe ich vor Entscheidungen, die abgewogen werden wollen: Dem zwielichtigen Händler helfen oder lieber weiterziehen? Aufträge für das Volk erledigen oder die eigenen Ziele verfolgen? Diese Optionen kann ich mit den Pfeiltasten aufrufen und mir nacheinander anhören. Auch ein Menü ist verfügbar, es funktioniert auf die gleiche Art. Im Gegensatz zu den Dialogen ist es tatsächlich sichtbar, was mir das rasche Navigieren durch beispielsweise Waffeneigenschaften erleichtert.

Nix da Augen zu und durch

Ansonsten spiele ich weitestgehend mit geschlossenen Augen. Kaum war das Eintauchen in eine Welt je so echt, so nah, so real wie in The Vale. Alex‘ verzweifelter Versuch, heim zu ihrer Familie zu kommen, reißt mich vom ersten Moment an mit. Der eine oder andere Plot-Twist hat bei mir für echte Überraschungen gesorgt. Unterwegs passiert so einiges, von dem ich mir zum Ende des knapp sechsstündigen Spiels hin sogar noch mehr Inhalt gewünscht hätte, aber hier betreten wir striktes Spoilerterritorium. Um niemandem die Freude zu verderben, möchte ich stattdessen die Musik positiv hervorheben. Sie ist zwar dezent, aber wirkungsvoll, wenn es um das Erzeugen einer mittelalterlichen Atmosphäre geht. Auch sie fungiert bisweilen als Wegweiser hin zu einem feuchtfröhlichen Trinkgelage oder als Anzeiger für vergehende Zeit.

The Vale entstand in enger Zusammenarbeit mit einer ganzen Community an Menschen, die sich für mehr Zugänglichkeit von Videospielen auch für Menschen mit Sehbeeinträchtigung einsetzen. Das spüre ich an jeder Ecke. Technologien, die beispielsweise aus der VR-Sparte stammen, machen es möglich, aber was es letzten Endes wirklich möglich macht, sind visionäre Menschen wie Chefentwickler Dave Evans. Er war es, der eine Geschichte ohne Bilder erzählen wollte und in dessen Händen The Vale: Shadow of the Crown das ambitionierte Projekt wurde, das ich nun vor mir habe. Meinen tiefen Respekt verdient der diverse Cast, dessen Stimmen wie schon erwähnt jedem einzelnen Satz Leben einhauchen. Ich hoffe, The Vale erreicht die Menschen, die wirklich auf solch außergewöhnlichen Ideen angewiesen sind, um Videospiele erleben zu können. Ich war dankbar für die Erfahrung und kehre sehenden Auges in meinen Alltag zurück.

9/10 👂⚔️

Developer/Publisher: Falling Squirrel
Genre: Non-Visual RPG
Musik: Tom Mullins, Giancarlo Feltrin, Johannes Bornlöf, Kaol Porter, Epedemic Sound
Veröffentlichung: 19. August 2021 (Steam, Epic Games Store, Xbox Series X|S, Xbox One)


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Redakteurin | + posts

Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.

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