Road 96 Review | On the road again

Das Roadtripabenteuer Road 96 von Digixart verpackt eine essenzielle Botschaft über Freiheit in viele kleine Geschichten.

Ich lache und ich weine. Ich lache, weil meine Posaune die Töne von Bella Ciao überhaupt nicht trifft und das Ergebnis klingt wie Katzenjammer. Völlig verständlich, dass der Campingplatzbesitzer mich und die Besitzerin der Posaune hochkant rauswirft. Aber das ist okay, immerhin hat er uns bis zum Morgengrauen Zeit gegeben. Und wir sind eh nur auf der Durchreise. Weiter, immer weiter, hin zum ominösen Ziel, das da heißt: Die Grenze. Die Freiheit. Raus aus Petria, ein Land, das unter einer terroristischen Vereinigung namens Die Brigade ächzt, das einen Präsidenten feiert, der rebellische Jugendliche verfolgen lässt, das keine freie Meinung zulässt. Ich weine, weil Petria zutiefst verrottet, aber doch ein wunderschönes Land ist, voller rundgeschliffener Felsen, buschiger Wälder und langer, gerader Straßen. Wie gemacht für einen Roadtrip, wenn ich doch nur freiwillig unterwegs wäre.

Road 96 ist nach jener Straße benannt, die Freiheit verspricht. Doch kurz vor der Grenze, wo die Straße in ein enges Tal mündet, fangen viele Schicksale erst an. Bis dorthin ist noch ein weiter Weg und mein Magen knurrt. Ob ich den von Fliegen umschwirrten Burger essen soll? Oder soll ich lieber etwas kaufen? Leichter gesagt als getan, das Geld fällt für eine_n ausgerissenen Jugendliche_n nicht vom Himmel. Von dem Einbruch rede ich erst gar nicht, das ging ja mal gehörig schief. Aber ich habe dazugelernt. Beziehungsweise mein kollektives Gedächtnis hat dazugelernt. Denn ich bin nicht mehr die Jugendliche, die Mitchs Dietrichset übernommen hat. Ich bin nur eine_r von vielen vermissten Jugendlichen, die sich auf den Straßen Petrias herumtreiben. Und doch ist jede Wahl, die ich treffe, eine, die jemand anders bereuen könnte.

Der Weg ist das Ziel – oder?

Ob ich verwirrt bin, fragt ihr euch? Nicht ganz. Road 96 ist ein episodisch erzähltes Abenteuer, in dem das Ziel darin besteht, die Grenze zu überqueren. Jene Grenze ist, typisch Dystopie, mit einer Mauer versehen, die die Berliner Mauer vor Neid ganz grün werden ließe. Ich beginne als zufällig generierte Person, bei der nur das Geschlecht bekannt (wenn auch völlig irrelevant) ist, wenige tausend Kilometer entfernt von meinem Ziel. Im Verlaufe des Spiels treffe ich Entscheidungen, die neue Ereignisse provozieren und mich weiter voranbringen oder scheitern lassen. Doch keine Bange, wenn ich scheitere, ist es für mich nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang. Ich ziehe die nächste Karte und wähle damit ein neues Schicksal, dessen Ausgang ich selbst in der Hand habe. Doch meine vorherigen Ichs haben ihre Spuren in der Welt hinterlassen. Jede meiner Personas prägt den Lauf der Geschichte.

Ich durchlebe sie alle aus der Egoperspektive. Mehr als meine Arme bekomme ich nicht von mir zu Gesicht, aber das ist in Wirklichkeit ja genauso. Der Blickwinkel intensiviert jedes Erleben um ein Vielfaches. Beispielsweise beginne ich zu schwitzen, als ich aus einem fahrenden Truck heraus mit einer Nagelpistole auf Gangster schießen muss, die uns verfolgen. Die Tür klappt auf und zu, der Truck ruckelt ganz ordentlich, aber ich schaffe es, ein paar Treffer zu landen. Boom! Verfolger abgehängt. Wer sagt’s denn, aus mir wird noch eine echte Gangsterbraut! Ich fühle Stolz in mir aufsteigen, als mein Charakter zurück in den Beifahrersitz klettert und von Trucker John einen Daumen hoch gezeigt bekommt. Ich leide glücklicherweise nicht unter Motion Sickness, spreche aber vorsichtshalber eine Warnung aus: Situationen wie ein Autounfall, bei dem das Bild wild herumschaukelt, sind zwar selten, kommen aber vor.

Und das ist die Blume des Partisanen, Gestorben für die Freiheit! (Aus: Bella Ciao)

Road 96 verlässt die Egoperspektive immer dann, um mir Panoramen zu zeigen, die mal im Sonnen-, mal im Mondlicht leuchten. Am Anfang jeder Episode wird mir ihr Name eingeblendet, um mich auf das Kommende einzustimmen. Wer bei „Smells Like Teen Spirit“ oder „Beat it“ nicht zumindest schmunzelt, hat ein Herz aus Stein. Road 96 atmet den 90‘s-Spirit. Apropos Musik: Die gefällt mir richtig gut. In jeder Szene ist der Soundtrack stimmungsvoll und groovy – zumindest, wenn ich nicht gerade auf einer Posaune tröte. Immerhin entschädigt mich die Besitzerin mit einem Tape, das dauerhaft in meinem Besitz bleiben wird. Im Laufe meiner Reise erweitere ich mein musikalisches Repertoire um die Tracks, die ich aus dem Soundtrack kenne. Wo immer ich ein Radio finde, kann ich so die gewünschte Mucke auflegen. Bella Ciao!

Zumindest, wenn ich nicht gerade dem illegalen Sender der Brigaden lausche, dessen Propaganda durch den Äther rauscht. Das Abenteuer steckt voller politischer Botschaften, die wenig subtil in der Landschaft verstreut sind. Wo auch immer ich bin, stets verfolgen mich das Gesicht des autoritären Machthabers Tyrak (welch wohlklingender Name) und seiner Herausforderin Florres. In fast jedem Gespräch kommt das heikle politische Thema auf, und sogar Vandalismus kann einen Einfluss auf meine Zukunft haben. Neben den wenig subtilen Flyern, Plakaten und Werbeschildern zieht der politische Konflikt tiefe Gräben in die Gesellschaft. Ich treffe nur wenige Anhänger des Regimes, doch meistens handelt es sich um Reiche und Polizisten. Jene Menschen, die sind wie ich, Vagabunden und Ausreißer, Landstreicher und Dauercamper, sie alle sehen der ungeschönten Realität ins Auge. Die Wahlen stehen kurz bevor, doch die Hoffnung auf einen Umbruch ist zart und zerbrechlich. Gewalt liegt in der Luft.

Road 96, die Straße der Hoffnung

Keine Sorge, ich nehme nichts vorweg. Denn ihr sollt das alles selbst herausfinden. Road 96 erzählt mir nicht nur das Schicksal zahlloser namenloser Jugendlicher, sondern vor allem die Geschichte von sieben Menschen. Darunter auch die Posaunenlady vom Anfang, die Zoe heißt und ein stupsnasiger Rotschopf mit Sommersprossen ist. In jeder Episode lerne ich etwas Neues über meine Teilzeit-Weggefährten. Je mehr ich sehe, desto mehr füllt sich ihr Profilbild auf der Übersichtskarte. Hier, da ist mehr Geschichte zum Ausgraben, schreit es mir entgegen. Und ich will mehr wissen. Ich will alles über das seltsame Verhältnis von Papa Bär zu Mama Bär erfahren (fragt nicht, es ist genauso weird, wie es klingt). Ich will wissen, was Polizistin Fanny antreibt. Ich möchte wissen, was aus Zoe geworden ist. Es sind ihre Geschichten, die meiner eigenen Leben einhauchen und sie wie ein Bündel roter Fäden zu einer Gesamtheit verbinden.

Wie bereits mehrfach erwähnt ist Road 96 kein lineares Abenteuer. Eure Reise wird sich von meiner unterscheiden. Aber ich kann euch versichern, dass „prozedural generiert“ schlimmer klingt, als es tatsächlich ist. Es bedeutet nur, dass ich meine Schritte frei wählen kann und die darauffolgende Episode zufällig ausgewählt wird. Ihr bekommt sie im Verlaufe der chronologisch erzählten überspannenden Handlung alle zu Gesicht, manche vielleicht auch erst im New Game+, das euren Fortschritt erhält. Ich kann also zu einem beliebigen Zeitpunkt über das Diebesduo Mitch und Stan stolpern, jedenfalls, wenn es Nacht ist. Bei Tag bricht es sich so schlecht in einen Laden ein. Und wie es dann mit mir weitergeht, entscheiden meine Handlungen. Und meine Skills, die ich bisher ausgelassen hatte. Denn wie auch die Tapes erwerbe ich dauerhaft Fähigkeiten, die mir vielfältigere Möglichkeiten eröffnen.

Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?

In Gesprächen oder Interaktionen werden mir diese Optionen mit kleinen Symbolen markiert. Besitze ich die Fähigkeit nicht (oder das Geld), ist sie rot eingefärbt und kann nicht ausgewählt werden. Das nötige Wissen erhalte ich in bestimmten Episoden von einer der acht Figuren. Je mehr Fähigkeiten ich freischalte, desto mehr erfahre ich wiederum über die Welt, eine clevere Mechanik, um mich bei der Stange zu halten. Und klar, ich will mich in Terminals hacken und Autos knacken können. Um wie viel einfacher wäre meine Flucht, wenn ich nicht auf launische Autofahrer oder teure Busse angewiesen wäre? Und Laufen fällt meist flach, das kostet mich Ausdauer. Die kann ich über Schlafen, Essen und Trinken regenerieren, aber wenn ich nicht gerade Master of Hütchenspiel werde, bin ich stets knapp bei Kasse. Wer weiß, vielleicht steckt ja doch ein Fünkchen Talent für besagtes Hütchenspiel, Pong oder Airhockey in mir?

Doch der Minispiele nicht genug, die auf meiner anstrengenden Reise für Abwechslung sorgen. Road 96 steckt voller Easter Eggs, manche recht offen platziert, für manche muss ich Extrawege gehen. Aber ich nehme mir die Zeit, beispielsweise auch mal das heruntergekommene Gelände einer Tankstelle nach Gegenständen abzusuchen. Vor allem das Telefon hält einige Geheimnisse bereit, die ich aber nicht verraten werde. Und dann ist da noch diese eine Episode mit dem Schatten – aber halt, mehr wird nicht verraten! Jede Umgebung strotzt nur so vor liebevollen Details, da ist mir der etwas steife Animationsstil der Figuren wumpe. An den habe ich mich schnell gewöhnt und ihn sogar lieben gelernt, und das ist bei meiner Vorliebe für pixelige oder handgezeichnete Szenerien nun wirklich eher die Ausnahme! Aber gerade die epischen Bergpanoramen muss ich einfach lieben, da führt keine Straße dran vorbei.

Go down that Road 96

Interessanterweise bringt die zufällige Aneinanderreihung von Episoden keine Verwirrung oder Desorientierung mit sich. Wesentliche Informationen werden über alle Storyschnipsel gestreut und ich kann anfangs alle Menschen fragen, was mir auf der Straße hilft am Leben zu bleiben. Informationen zur politischen Lage erhalte ich in den Nachrichtensendungen, die jedem meiner Kapitel vorangehen. So individuell und zufällig, wie vollmundig von Developer Digixart beworben, ist Road 96 also nicht, aber das tut dem Erlebnis keinen Abbruch. Die Botschaft bleibt die gleiche: Freiheit ist das höchste Gut, für dass es sich zu kämpfen lohnt. Ob ich nun im Stillen kämpfe, ob ich laut schreie oder mich für die Flucht entscheide, das bleibt mir überlassen. Aber ich muss kämpfen, das steht jedem_r ins Gesicht geschrieben. Und so wird Petrias Schicksal zu meinem eigenen – immer und immer wieder.

9/10 🛣️✊

Developer/Publisher: Digixart
Genre: Narrative, Adventure
Musik: Cocoon, The Toxic Avenger, Robert Parker, Kalax, SURVIVE, Daniel Gadd, Volkor X
Veröffentlichung: 16. August 2021 (Steam, Epic Games Store, GOG, Switch)


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Redakteurin | + posts

Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.

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