Lacuna Review | Detektiv unter fremden Sternen

Lacuna erfindet sein Genre neu und treibt meinen Puls bei einem spannenden, exoplanetaren Fall in die Höhe.

Wer mich kennt oder unseren Detektivspiele-Podcast gehört hat, für den/die erzähle ich jetzt nichts Neues: Ich liebe Detektivspiele. Ich finde gerade Adventures und Point-and-Clicks bergen viel Potential für Detektivspiele, weil das gründliche Zusammensetzen von Hinweisen sich im besten Falle wie ein gut gemachtes Puzzle anfühlt. Ein paar der besten Beispiele für das bunte Genre haben Malte und ich in unserem Podcast angeführt, darunter Klassiker wie Disco Elysium und Lamplight City. Aber es gibt einen Aspekt, der all den Spielen fehlt, die ich bisher in die Hände bekommen habe: Action. Das ist nicht weiter verwunderlich, immerhin sind Point-and-Clicks nicht gerade für ihre Schnelligkeit berühmt. Umso mehr hat mich DigiTales Interactives Versprechen gefreut, als sie Lacuna ankündigten. Da war von einem Spiel die Rede, in dem rasches Mitdenken ebenso wie ein wacher Geist gefragt ist.

Das hätte schon gereicht, um mich neugierig zu machen. Aber das ist noch nicht alles, immerhin wartet Lacuna mit einem Sci-Fi-Setting auf, das überraschend komplex daherkommt. Ich gehe nicht ins Detail, was die politischen Verwicklungen zwischen den drei Planeten eines fremden Sonnensystems angeht, aber ich habe mir jede Information einverleibt. Dabei zählt die irdische Politik nicht gerade zu meinen Stärken. Aber die Menschen sind nun mal immer noch die gleichen Wesen, obwohl die Umgebung glaubhaft vermittelt, dass sich die Geschichte nicht auf Mutter Erde abspielt. Will sagen, Ungleichheit und wirtschaftliche Machtkämpfe begleiten die Menschheit über Lichtjahre hinweg. Ich fühle mich, so paradox das jetzt klingt, direkt zu Hause.

„Sagst du die Wahrheit oder wahrst du den Frieden?“

Lacuna vermittelt optisch ein realistisches Bild der Siedlerkolonie auf Ghara. Die tolle Pixelart erwacht mittels gelungener Animationen zum Leben. Das erzeugt das Gefühl einer Welt, die auch abseits des Bildschirms existieren könnte. Der Protagonist bewegt sich dynamisch und legt alle Wege tatsächlich zurück. Dadurch bekomme ich auch entschleunigende Momente mit: Wie mein Charakter nach Hause kommt. Wie er zur Arbeit fährt. Wie er seine Ex-Frau und die gemeinsame Tochter besucht oder auf dem Balkon eine Zigarette raucht. Es sind diese kleinen Augenblicke, die mich in das Adventure hineinsaugen und eine reale Welt um mich herum erschaffen. Da fällt kaum ins Gewicht, dass ich bei meinen Erkundungen oft auf Blockaden stoße, die mich vom Herumstromern abhalten. Kleinere Events wie ein Straßenkonzert, dem ich lauschen darf, trösten über diese Limitierung hinweg.

Aber ich rede schon wieder über alles, nur nicht über die zentrale Handlung. Beginnen wir bei meinem Hauptcharakter. Neil Conrad ist ein Ermittler der örtlichen Polizeibehörde CDI und, ebenso wichtig, Kettenraucher. Ich lerne ihn auf eine subtile Art kennen, über Gespräche mit seinen Kollegen, seine langen Selbstgespräche auf dem Arbeitsweg oder seine Gewohnheiten. Er besitzt ein Chamäleon namens Horace, das man streicheln oder füttern kann. Leider hat mir das Internet nicht verraten, ob ich ihm mit Streicheln wirklich eine Freude mache – ich habe es trotzdem getan, weil Neil mir wie die Art Mensch vorkommt, der so etwas tut. Er zeigt wenig Gefühle, ist aber trotzdem nicht der Typ Steinklotz. Das erfahre ich vor allem in den Gesprächen mit der Ex-Frau, die ihn mehr belasten, als er zugibt. Meistens versteckt er seine Verletzlichkeit hinter seinem Pflichtbewusstsein als Ermittler. Wie gesetzestreu er tatsächlich handelt, darf ich selbst entscheiden.

Lacuna, lat. Lücke: Besser kein Mut zur Lücke

Denn Lacuna besitzt ein Dialogsystem, das mich als Spieler_in des Öfteren vor die Wahl stellt. Im Umgang mit Zeugen, Kollegen oder Verdächtigen ist mir überlassen, ob ich rabiat oder behutsam vorgehe. Dabei läuft ein Timer herunter, sodass Gespräche dynamisch ablaufen. Meine Entscheidungen haben reale Auswirkungen auf die Spielwelt. Einmal habe ich eine Mitarbeiterin eines Escorts daran „erinnert“, ihren vertraglichen Pflichten doch bitte nachzukommen. Sie wollte eigentlich stattdessen studieren gehen, gibt aber am Ende unter meinem Druck nach. Am nächsten Tag laufe ich auf der Straße prompt in ihren Bruder, der mich für meine „Überredungskünste“ gehörig anpflaumt. Dabei wollte ich doch nur einen Deal mit dem, sagen wir, Vermittler des Escort-Geschäfts aushandeln, der sich zumindest am Rande der Legalität befand. Ich hätte das sicherlich klüger lösen können, so muss ich mit den Konsequenzen leben.

Besonders heikel wird das bei den Fallakten. Zu jedem Fortschritt in den Ermittlungen muss ich die Abschlussakte einreichen und auf Basis meiner Informationen wird dann weiter ermittelt. Was anfangs noch nach einer simplen Tätersuche aussah, besitzt in Wirklichkeit politische Sprengkraft und bedroht das labile Kräftegleichgewicht. Ein hochrangiger Politiker, der eigentlich nur auf Staatsbesuch war, wurde ermordet. Das facht die interplanetaren Konflikte weiter an und streut in alle Gesellschaftsschichten. Ich begreife schnell die Zusammenhänge, dank einer wahren Informationsflut, die mich auf meinem Pager erreicht (sagt man heutzutage noch Pager?). Aber mein Job ist kein diplomatischer, ich soll nur ermitteln. Also mache ich das, was ich am besten kann. Ich drücke meine Nase auf den Boden und schnüffele nach Hinweisen.

Irrungen und Wirrungen

Okay, fast. Tatsächlich ist die Detektivarbeit gar nicht so trivial, wie ich anfangs dachte. Es fing sanft an mit wenigen eindeutigen Spuren, die ich zu einem schlüssigen Tathergang zusammensetzte. Aber schon bald saß ich vor dem Bildschirm, kaute an meinem Kuli und kritzelte Theorien auf ein echtes Blatt Papier, um den Überblick zu behalten. Und lag am Ende doch falsch, was beinahe fatale Auswirkungen gehabt hätte. So gerne ich virtuell Detektivin spiele, so froh bin ich, es nicht auf täglicher Basis tun zu müssen. Der Plot, der mich immer tiefer in einen hochkomplexen Fall hineinzieht, fühlt sich zu jedem Moment organisch und authentisch an. Bedeutet, ich leide mit meinem Protagonisten unter meinen Fehlentscheidungen. Und diese beeinflussen essentiell den Ausgang der Story, zu dem ich jetzt nichts weiter sage. Aber ich verspreche nicht zu viel, wenn ich einen hochdramatischen Showdown ankündige.

Was Lacuna endgültig in meinen persönlichen Olymp der Detective Games hebt, ist kein Merkmal per se. Es ist das Herzrasen, das ich in kritischen Momenten bekomme. Lacuna lässt mir in solchen Situationen nur ein paar Sekunden Zeit zum Nachdenken, was unausweichlich zu Fehlern führt. Das kann schon mal die gründliche Recherchearbeit im Vorhinein zunichtemachen. Erschwerend kommt hinzu, dass es kein Schwarz-oder-Weiß-Denken gibt. Selbst meine erbitterten Antagonisten besitzen eine Persönlichkeit, eine Hintergrundgeschichte und unter ihrem Auftreten eine verletzliche Menschlichkeit. Zumal meine Mitstreiter keinesfalls unantastbare Helden mit blütenweißen Westen sind, sondern ebenso fehlerbehaftet wie ich selbst. Nicht für jede richtige Entscheidung wird mir gedankt, nicht jede falsche wird bestraft. Oftmals kann ich nicht beurteilen, ob ich das Beste getan habe.

There is no going back

Hat DigiTales Interactive zu viel versprochen, als sie von einer Revolutionierung des Point-and-Click-Genres sprachen? Ich finde: Nein. Sie schaffen es vollständig, auf zermürbende Puzzle-Hindernisse zu verzichten, bauen auf ein „Echtzeit“-Dialogsystem und weben jede Entscheidung nahtlos in die Story ein. Das progressive Adventure resoniert vor allem deswegen so gut mit mir, weil ich mich an langen Texten nicht störe, Rennen in Detektivspielen schon für revolutionär halte und gerne über logischen Rätseln grübele. Darum fehlt mir auch kein Hilfesystem. Das wäre durch die Erzählweise eh überflüssig. Die deutschen Entwickler_innen halten den Flow aufrecht und schaffen eine Immersion, die mithilfe von vertonten Monologen bewusst aufgebrochen wird. Durch die Selbstreflektion Conrads wird meine eigene Entscheidung auf mich gespiegelt. Von wegen Mord ist sein Hobby: der ernste Grundton gehört zu den großen Stärken dieses modernen Narratives.

9/10 🪐 📝 💓

Developer: DigiTales Interactive
Publisher: Assemble Entertainment
Genre: Point-and-Click Adventure, Detektivspiel
Team: Julian Colbus (CEO), Jasmin Pfeiffer (Writing), Benedikt Gillenberg (Programming), Michael Hoen (Art)
Musik: Julian Colbus (Composer)
Auszeichnungen: Best Start-Up (Game Award Saar, Saarbrücken, 2018), Game of the Night, 2nd Place (Indie Game Fest, Köln, 2019), Best Prototype (Game Award Saar, Saarbrücken, 2019), Special Jury Award (Game Award Saar, Saarbrücken, 2019)
Veröffentlichung: 20. Mai 2021 (Steam)

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Redakteurin | + posts

Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.

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