Mind Scanners Review | Keine Gedanken sind frei

Für Normalität und die Vernunft! Mind Scanners kreiert eine düstere Zukunftsvision, in der psychische Auffälligkeiten ausgemerzt werden.

Ich habe eine psychische Erkrankung erlebt. Es war 2013, ein Jahr, das für mich untrennbar mit diesem Bruch verbunden bleibt. Von heute auf morgen war ich nicht mehr dieselbe, und es hat einige Jahre gebraucht, bis ich wieder normal leben konnte. Ich hatte zur Zeit des Ausbruchs der Krankheit große Schwierigkeiten, sie zu akzeptieren. Ich wollte nicht krank sein. Es war eine Schwäche, ein Makel, und deswegen stemmte ich mich gegen die Wahrheit. Doch natürlich war auch das ein sicheres Zeichen, dass es wirklich ernst war. Heute sehe ich, dass ich gewachsen daraus hervorgegangen bin. Es war, so seltsam das klingen mag, eine Neugeburt. Ich musste Leben von Neuem lernen. Ich bin sogar dankbar für das, was ich daraus gezogen habe. Auch wenn mich die Schatten von damals nie ganz verlassen werden.

Mind Scanners – nicht aus Leidenschaft

Jetzt hatte ich diese dystopische Retro-Simulation in grellen Farben vor mir. Ich nahm Mind Scanners zur Hand und wog es prüfend hin und her. Was will mir dieses Spiel, das mich zur Mechanikerin von Verrückten macht, sagen? Zentraler Punkt in Mind Scanners ist: Alle geistigen Abweichungen sind Wahnsinn. Wahnsinn ist Chaos, Chaos ist der Feind, denn alles gehorcht The Structure. Ich habe also eine politisch und sozial höchst explosive Mischung vor mir, die Gefahr läuft, dem Klamauk anheim zu fallen. Die Simulation kreiert eine Dystopie, in der jede Meinung zur geistigen Abartigkeit gemacht werden kann. Das bedeutet aber auch, dass Leute mit Schizophrenie, Depressionen oder Gewaltfantasien in die gleiche Schublade gesteckt werden wie die schrullige Oma von nebenan. Und das ist keine Botschaft, hinter der ich stehe. 

Die Skepsis ist also da, als ich mit der Story beginne. Ich erfahre, dass meine Tochter von der Struktur gefangen gehalten wird. Um sie aus der Hand des Regimes zu retten, muss ich die Struktur unterwandern und selbst zum Mind Scanner werden. Erst, wenn ich innerhalb des Systems aufsteige, erhalte ich Zugang zu ihr. Auf einer persönlichen Rettungsmission zum Staatsfeind zu werden, kenne ich aus jedem zweiten Spionagefilm. Aber statt in hochdramatischen Actionszenen, wird mir die Geschichte mittels trockener Telegramme erzählt, die sich jeden Morgen aus meinem Faxgerät schieben. Zusammen mit dem verzerrten Geblubber aus den Lautsprechern erinnert das nicht nur optisch an die dystopische Vision von Papers, Please!, die als Inspirationsquelle gedient hat.

Die Struktur wünscht einen fröhlichen Mauertag

The Structure steht für eine strenge Gesellschaftsordnung, die Andersdenken systematisch ausmerzt. Das muss, soviel wird klar, aus der totalen Überwachung resultieren. Wie sonst würden die Mind Scanners von den Ausreißern erfahren? Diese werden von Mind Scannern „behandelt“ oder bei mangelnder Anpassung aus der Gesellschaft verbannt. Rund um die Metropole voller futuristischer Gebäude liegt eine Mauer, die alles Innere vor dem Äußeren schützt. Es gibt sogar einen Mauertag, der als offizieller Feiertag zelebriert wird. Die Struktur duldet das ungeregelte Leben außerhalb der Mauer nicht, deswegen entspricht die Verbannung in die äußerste Zone auch der höchstmöglichen Bestrafung. Was sich dort wirklich befindet, erfahre ich nur durch den betriebsblinden Propagandafilter.

Mit meinem Rettungsplan riskiere ich folgerichtig, bei mangelndem Einsatz in die äußeren Zonen verbracht zu werden. Dann hätte ich keine Chance mehr, zu meiner Tochter zu gelangen. Zusätzlich bedeutet Pleitegehen Game Over, also halte ich mich an die Vorgaben, die aus dem mundförmigen Lautsprecher dröhnen. Sie erklären mir meine Arbeitsweise, während ich mich an meinen Job herantaste. Auf einer Karte werden mir meine Patient_innen angezeigt, die ich besuchen muss. An ihnen führe ich ein Mind Scanning durch, eine Abwandlung des Rohrschach-Tests. Die folgende Behandlung kostet Zeit, eine kostbare Ressource, mit der ich auch neue Geräte erwerben kann. Wie in einem echten Knochenjob sind Zeit und Geld immer knapp, da fühlen sich alle Mitarbeiter_innen in medizinischen Berufen direkt heimisch. Deshalb nehme ich die Patient_innen anfangs vor allem als Job wahr, weniger als Individuum.

„Man hat gewöhnlich nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen zwei Übeln zu wählen.“

Diese sind karikativ zugespitzte Charakterstudien von Menschen mit extremen Störungen. Der Mann, der glaubt ein Baum zu sein, gehört da noch zu den Harmloseren. Obwohl ich eigentlich ein sehr empathischer Mensch bin, fühle ich mich verantwortlich, ihnen zu „helfen“. Mit meinen mechanischen Geräten soll ich den Wahnsinn aus ihnen austreiben wie den Teufel bei einem Exorzismus. Es gibt verschiedene Wahnsinnsmuster, aus denen sich die äußerst kreativ benannten Störungen zusammensetzen. Ich muss sie einzeln oder maximal drei auf einmal eliminieren, um die Bürger_innen zu heilen. Dabei schwindet aber auch deren Persönlichkeit, die mir als schnöder Balken angezeigt wird. Ich habe viele Menschen zu leblosen Zombies gemacht, bis mir auffiel, dass es eine Möglichkeit gibt, ihre Persönlichkeit zu wahren.

Als mir das bewusst wurde, schämte ich mich ein bisschen, wie brutal ich vorgegangen bin. Verschiedene Geräte geben mir die Möglichkeit, die Persönlichkeit der Patient_innen zu retten oder ihren Stress zu reduzieren. Im zweiten Anlauf habe ich schon mehr Übung und kann sie mir leisten. Diese kurierten Menschen reagieren dankbar, schreiben mir herzliche Briefe von ihrem neuen Leben oder senden mir auch Geld. Es lindert mein schlechtes Gewissen, da ich wirklich das Gefühl habe, zu helfen. Wem ich tatsächlich helfe, wird mir erst im Verlauf des Spiels klar: Der Struktur, die sich von Anomalien bedroht fühlt und mit jedem Mittel zurückschlägt. Eine Untergrundorganisation namens Moonrise kontaktiert mich. Sie wirken weniger wie Befreiungskämpfer als vielmehr wie eine radikale Terrororganisation. Nachdem ich ihren Anweisungen nicht folgen kann, brechen sie den Kontakt zu mir ab. Mein schlechtes Gewissen bleibt.

[…] denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei.

Aber ich habe die Wahl bekommen, ihnen zu folgen und damit einen anderen Storyverlauf zu gehen. Schließlich verdeutlichen mir genug Begegnungen, wie falsch und verlogen das System ist. Ich treffe Boris, einen Techniker, der meine Geräte wartet und währenddessen über seine Arbeit philosophiert. Er hält das Heilen von Geisteskrankheiten mittels mechanischer Methoden für grundfalsch und ist doch selbst ein Rädchen im System. Seine ausgesprochenen Gedanken halten mir einen Spiegel vor. Doch meine Rebellion kommt zu spät. Als ich dem Konstrukteur, Erschaffer der Struktur und damit faktisch Regierungsoberhaupt, gegenübersitze und ihn scanne, erkenne ich das Problem. Natürlich ist auch er nicht fehlerfrei. Natürlich sind auch unter seiner beherrschten Fassade Traumata, unverarbeitete Erlebnisse und herrschsüchtige Ansichten verborgen.

Mind Scanners tut gar nicht so, als wäre sein Propagandaspruch For Normality and the Mind in irgendeiner Weise vertretbar. Es fordert mich heraus, die Ungerechtigkeit im System zu erkennen und Widerstand zu leisten. Die im Spiel gezeichnete Gesellschaftsordnung ist von George Orwells Vision der totalen Überwachung in 1984 gar nicht so weit entfernt. Und wie bei Orwell wächst der Keim der Rebellion umso stärker, je mehr Widerstand er erfährt. Und mir wird die Entscheidung selbst überlassen, wie ich handele. Darum kann ich in einem neuen Durchlauf auch anders vorgehen und die Konsequenzen erleben. Die Frage, wie ich Wahnsinn definiere, bleibt. Ab wann eine Abweichung von der Norm krankhaft wird, beantwortet mir kein Scan dieser Welt. Aber eines ist klar: normal existiert nicht.

Mind Scanners ist zutiefst politisch

Jeder ist ein bisschen verrückt, und das macht unsere Individualität aus. Wir können nicht in einem System leben, das uns bis auf die Gedankenebene gleichschaltet. Jeder einzelne der skurril gezeichneten Charaktere verdient eine menschliche Behandlung, keine mechanische, die Abweichung als Fehler begreift. Mind Scanners ist sich dessen sehr wohl bewusst. Darum existiert Moonrise. Darum balancieren die Gerätschaften auch bewusst auf einem Grat zwischen Quacksalberei und Folterinstrument. Manche von ihnen gehen auf sehr zweifelhafte Methoden der frühen „Psychotherapie“ zurück, so zum Beispiel die Elektroschocktherapie. So spaßig es ist, diese kreativ umgesetzten Apparate zu benutzen, so unbehaglich wird mir bei der Recherche. Hätte ich hundert Jahre früher gelebt, ginge es mir jetzt zweifelsohne nicht so gut.

Manche Einflüsse sind unverkennbar (Papers, Please! wird überall genannt und die Ähnlichkeit existiert), andere sind subtiler. Die ersten Konzeptzeichnungen erinnern noch stark an Künstler Gideon Kiefer, der Lebewesen in eingefrorenen Posen geradezu seziert hat. Developer The Outer Zone hat sich bewusst in Farbgebung und Musik inspirieren lassen und es trotzdem geschafft, eine sehr eigenwillige Dystopie zu erdenken. Nach einem Umweg über eine Psychiatriesimulation ist am Ende ein durchaus verstörendes Retro-Point-and-Click herausgekommen, das mein ethisches Selbstverständnis auf den Prüfstand stellt.

8/10 🧠🔍🥴

Developer: The Outer Zone
Publisher: Brave At Night
Genre: Dystopische Simulation
Team: Malte Burup (Design, Art, Sound, Writing), Rasmus Mølck Nilsson (Design), Hans Frederik Jacobsen (Writing)
Musik: Malte Burup
Veröffentlichung: 20. Mai 2021 (Steam, GOG)

Redakteurin | + posts

Die Naturwissenschaftlerin von WLTW. Sie recherchiert alles, was im Entferntesten nach Informationen riecht. Weil ihre Kreativität im Studium zu kurz kommt, hat sie Indie Games für sich entdeckt, am liebsten Point-and-Clicks. Aber im Prinzip kann man sie für alle Puzzler, RPGs oder Lebenssimulationen begeistern.

3 Gedanken zu “Mind Scanners Review | Keine Gedanken sind frei

  1. Danke für diesen tollen Beitrag! Das Spiel kommt definitiv auf meine to-play-Liste! 🙂 Bin grade eben auf deinen Blog gestoßen und begeistert, da ich selber gerne Indie-Games spiele. Gleich mal gefollowed für zukünftige Inspirationen!

    1. Freut uns, dass dir der Beitrag gefallen hat und danke fürs Follow von der ganzen Redaktion.
      Viel Freude mit unserem Indie Game Magazin. 🙂

      1. Hallo Benja, vielen Dank für die Antwort auf meinen Kommentar. Ich freue mich schon auf viele weitere Beiträge von euch! 🙂

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