Wenn ich in das Spiegelkabinett trete, wie viele bin ich dann? Strangeland hat darauf eine verstörende Antwort.
Den Karneval gibt es weltweit, ich denke zuallererst an den Karneval in Rio. Dagegen ist unser Karneval (oder wie ich sage, Fasching) nur ein müdes Humpenheben. In einem Land hat sich die bunte Tradition allerdings verselbstständigt und einen Platz in der Popkultur beansprucht. Ich rede natürlich vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, kurz USA. Der dortige „carnival“ entspricht mehr unserem Rummel (auch Jahrmarkt, welcher Depp ist eigentlich für diese ganzen Namen verantwortlich?) und besteht aus einer Reihe von fahrenden Attraktionen. Darunter befinden sich meist ein Karussell (englisch merry-go-round, klingt das nicht wundervoll?), Clowns und ein Riesenrad (ferris wheel, nach dem Erfinder George Ferris). Und meistens gibt es auch eine Art Freak Show, in der wunderliche Wesen dem öffentlichen Voyeurismus preisgegeben werden. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Gruselgeschichten den Jahrmarkt als Setting wählen.
Ich muss nicht lange überlegen, da fallen mir schon ein paar Beispiele ein. Stephen Kings Joyland, der Film Zombieland, die drei ??? und Die schwarze Katze, Something Wicked This Way Comes von Ray Bradbury, The Darkside Detective: A Fumble In The Dark, The Park… to be continued. Was dem Spaß der Massen gewidmet ist, scheint durch seine Seltsamkeit immer schon auch Urängste in uns hervorzurufen. Strangeland wählt den Karneval als Leitmotiv und haucht ihm beängstigendes Leben ein. Die Attraktionen sind nun nicht mehr meinen staunenden Blicken ausgesetzt, sie sprechen mit mir. Und ich bin kein Besucher, der nach Belieben wieder gehen kann. Ich muss immer wieder durch die Clownspforte gehen, die mir schlechte Witze erzählt und dann irre loslacht.
Das Schicksalsrad
Strangeland ist der Ort, an dem meine Träume Realität werden. Nicht die Träume, in denen ich Eis essend auf einem Hexenbesen nach Hogwarts reite, sondern die Art Traum, wo ich mit meinen Urängsten, meinen Traumata konfrontiert werde. Ich bin der Stranger in einem seltsamen Land, das im Zwielicht zwischen Fleisch und Maschine kauert. Alles hier ist auf beunruhigende Weise organisch und doch leblos. Der irre Clown war erst der Anfang. Auf einem verlassenen Münztelefon klingelt ein Anruf. Der Anrufer klingt frustriert, als erkläre er alles zum zehnten Mal, und wirft mir Anschuldigungen an den Kopf. Ich soll ihn anrufen, wenn ich Hilfe bräuchte. Dabei klingt er fast hämisch, wie der Kartenkontrolleur einer Geisterbahn, der meine Schreie schon erahnen kann.
Denn an diesem toten Ort lauert das Böse selbst, schwarz, körperlos und doch mit tödlichen Stacheln besetzt. Ich muss es töten, denn es tötet die Frau, saugt sie tief hinab in den Brunnen. Aber kann man etwas töten, was im eigenen Kopf existiert? Regelmäßig erschüttert es diese surreale Welt in ihren Grundfesten, sodass alles in Pixelbrei verschwimmt. Obwohl hier nichts von Dauer ist, nicht einmal der Tod, kann es mir doch schaden. Der Horror ist mir immer auf den Fersen, obwohl Sterben nur einen Neubeginn bedeutet. Jedes Mal, wenn ich einen falschen Schritt tue, blicke ich dem Tod ins Auge – wortwörtlich. Dann erstehe ich auf, mein Kopf materialisiert sich erneut auf meinen Schultern. Wieder betrete ich den Karneval, der wie ein schlechtsitzendes Kostüm die Hässlichkeit meines Inneren nur unvollständig zu bedecken vermag.
The man who stands at a strange threshold should be cautious before he crosses it
Der Anrufer behielt Recht mit seinen bissigen Kommentaren, ich würde die Hilfe dringend brauchen. Anfangs fand ich mich in dieser Albtraumwelt nicht zurecht, rief ihn ständig an und flehte um Rat. Ich verstand diese Welt nicht, begriff nicht, dass hinter jeder Ecke eine neue Gefahr lauerte. Ich stürzte mich in den Brunnen, einfach, weil es dort unten golden schimmerte, starb und erstand von neuem. Hatte der Rabe mir etwa seine Flügel gegeben?! Ich bin zu verwöhnt von Adventures, die mich vor meiner eigenen Dummheit schützen. Hier schützt mich nichts und niemand. Wie auf einem Karussell drehte ich Runde um Runde in dem verzweifelten Versuch, den Karneval des Schreckens zu durchdringen.
Wenn ich bis dahin eins begriffen hatte, dann, dass mir in Strangeland nichts geschenkt wurde. Sogar dem Clown gingen irgendwann die Witze aus, so oft ging ich aus Versehen drauf. Er ließ mich unbehelligt durch seinen aufgerissenen Mund marschieren, was den Wahnsinn beinahe normalisierte. Aber ich fand auch etwas heraus. Mit jedem Rätsel kam ich der Körpersprache des Point-and-Clicks näher, las zunehmend in den Details. Der Anrufer hatte mir vorgeworfen, nicht auf die Zeichen zu achten. Aber ich schaute hin, lauschte in Gesprächen nach der Botschaft darunter. Subtile Schubser wiesen mir die richtige Richtung. Mein Auge war geschulter, je tiefer ich in Strangeland eintauchte, auf der Suche nach… nach was eigentlich?
Grief is a cage to be escaped with the right key
Technisch gesehen befand ich mich auf einer Rettungsmission, aber ich gab die Frau bereits verloren. Sie tauchte nur in verstörenden Zwischensequenzen auf, die sie Schritt für Schritt dekonstruierten. Aus den Worten aller ging klar hervor, dass ich für ihren Tod verantwortlich war. Doch auf meine Nachfragen wurde mir nur mit noch mehr Rätseln geantwortet. Ich fühlte mich wie bei einer Sitzung mit einer verrückten Weissagerin. Alle Charaktere sind Symbole, als wären sie einem Deck Tarotkarten entsprungen. Der blinde Alte etwa, der unter einem vertrockneten Baum sitzt, trägt den klingenden Namen Fimbul Fambi. Das stammt aus dem Isländischen und bedeutet „gewaltiger Narr“. Er ist als einziger keine Jahrmarktsattraktion und passt doch in diese Akkumulation von Kuriositäten.
An einem Punkt ist passiert, was die Developer vorhergesagt haben: Der Moment, wenn ich als Spieler_in beginne, das Puzzle zu verstehen, weil ich das Spiel und seine Charaktere verstehe. Ich habe sie als organischen Part der Welt begriffen und wurde ein Part davon. Und als Teil einer grausamen Umgebung war es natürlich, den Raben mit aufgelesenen Kieseln zu bewerfen. Stets hatte ich das Gefühl, meine Welt zu beeinflussen. Ich hörte auf zu spielen und begann zu agieren. Darum geht mir Strangeland nicht mehr aus dem Kopf. Seine Musik hallt in meinen Ohren, das irre Lachen des Clowns echot durch meinen Kopf. Die bizarren, zutiefst verstörenden Bilder beschäftigen mich bis in die Nacht hinein. Noch nie habe ich in einem Point-and-Click eine derartige Immersion erlebt.
Stranger in a Strangeland
Ich lugte hinter die zerschlissenen Kulissen, die mich vom Kern des Spiels wie den Stranger von der erschreckenden Wahrheit trennte. Schält man die Fassade des Retro-Spiels ab, kommt eine Welt voller Symbolik, Metaphern und Zitaten zum Vorschein. Ich kann nicht einmal annähernd alle nennen, dann säßen wir hier noch morgen. Ich empfehle an dieser Stelle, vor Beginn die Dev-Kommentare auf Steam zu lesen. Dieses Spiel war vier Jahre in Entwicklung, herausgekommen ist ein zutiefst persönliches Werk, das auf der Verarbeitung von Verlust und Trauer ruht. Außerdem sind viele Kunst-, Literatur- und Game-Inspirationen in die Entwicklung eingeflossen. Der Karneval ist nur eins der offensichtlichen Beispiele. Publisher Wadjet Eye Games ist schließlich für die grandiose Synchronisation verantwortlich.
Jeder Satz in Strangeland steht an der richtigen Stelle. Es zu spielen, gleicht der Interpretation eines Gedichts. Gleichzeitig ist es ein uraltes Bild, dick auf eine Leinwand gepinselt, das viele vorherige Versionen versteckt. Und wie ein Gemälde birgt das pixelige Adventure mehr als nur sein bloßes Aussehen. Die etwas hüftsteifen Animationen werden von dem einzigartigen, organo-mechanischen Look mehr als wettgemacht. Wie in einem Kuriositätenkabinett weiß ich gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Der Schlüssel war Aufmerksamkeit. Mehr als in jedem anderen Adventure wird Mitdenken belohnt. Ich werde noch viele Male über den Dialogen grübeln und die Inspirationen von Wormwood Studios ergründen. Nur folgerichtig, dass ich die letzten Worte an Strangeland gebe: Dieser ganze Rummel ist eine Lüge… ein Spiegelkabinett… weil du zu beschämt bist, in einen ECHTEN Spiegel zu schauen und das wahre Du zu erblicken.
10/10 🤡💀
Developer: Wormwood Studios
Publisher: Wadjet Eye Games
Genre: Horror-Point-and-Click Adventure
Team: Mark Yohalem (Writing/Design), Victor Pflug (Art), James Spanos (Coding)
Veröffentlichung: 25. Mai 2021 (Steam, GOG)
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