Funselektor macht in art of rally aus Motorsport ein Kunstprojekt. Wie ist das möglich?
Wann reden wir von Kunst? Wenn meine sehr junge Nichte zum ersten Mal einen Stift über ein Blatt Papier streift, ist das vermutlich genau wie die Mona Lisa in irgendeiner Weise ein selbstgemaltes Bild, aber noch lange keine Kunst. Wenn ich mich ins Auto setze und einkaufen fahre, klappt das ganz hervorragend, ist aber noch immer meilenweit davon entfernt, was zum Beispiel ein Colin McRae auf den Schotter gezaubert hat. Und auch wenn mir viele Motorsportfans jetzt vehement widersprechen möchten. Die außerordentliche Fähigkeit der Beherrschung einer Hochleistungsmaschine unter abnormalen Bedingungen ist noch immer keine Kunst, sondern eine Mischung aus unglaublich großem Talent, Fitness, Sachverstand, Feingefühl und jahrelangem Training. „Können“ könnte ich ganz salopp in den Raum werfen. Ausgebildete Meister_innen ihres Fachs. Doch dann crasht mir der deutsche Wortstamm des Begriffes „Kunst“ in die Argumentation und sagt „Kunst kommt von Können“. Und dennoch ist nicht jedes außerordentliche Können gleich Kunst… verzwickt.
Werkzeugkasten
Doch schon zur Epoche der Aufklärung hat sich der Kunstbegriff von seinem Wortstamm gelöst und sich vielmehr der Bedeutung von Ästhetik zugewandt. Es müssen demnach mehrere Faktoren zusammenkommen, damit wir von Kunst reden können. Fragen wir also mal unseren lieben Onkel Wikipedia: „Im engeren Sinne werden damit Ergebnisse gezielter menschlicher Tätigkeit benannt, die nicht eindeutig durch Funktionen festgelegt sind. Nach Tasos Zembylas unterliegt der Formationsprozess des Kunstbegriffs einem ständigen Wandel, der sich entlang von dynamischen Diskursen, Praktiken und institutionellen Instanzen entfalte.“
„Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Das Kunstwerk steht meist am Ende dieses Prozesses, kann aber auch der Prozess bzw. das Verfahren selbst sein.“
Also zurück zum Rennen fahren. Die pure Beherrschung der Hochleistungsmaschine an sich hätte je nach Auslegung eventuell Kunstpotenzial. Was den Motorsport jedoch tatsächlich zu einem Kunstwerk werden lässt, ist nicht die Ausübung selbst, sondern das Zusammenspiel aus vielen Faktoren. Das Aufeinandertreffen von Design und technischer Perfektion. Die Beherrschung von brachialen Gewalten, ihre Ausführung und ihr Ergebnis. Die Ausübung des Sports umgeben von einzigartigen Landstrichen und die gelebte Faszination abseits der Strecke. Einzelne Fragmente von Faszination, Können und Emotion treffen im Schaffensprozess aufeinander, um ein Bild zu kreieren. Ein ästhetisches Abbild. Nicht der Motorsport selbst ist hier die Kunst, sondern sein im kreativen Prozess geschaffenes Bild. Fahrer_innen, Landschaft, Autos, Menschen und die Technik die dafür benötigten Utensilien – der Werkzeugkasten.
Übung macht den Meister
Genau diese Utensilien macht sich Funselektor zunutze und kreiert seinerseits ein minimalistisches Abbild des Rallyesports. Einen stilisierten ästhetischen Blick darauf, wenn jeder einzelne Faktor perfekt ineinandergreift. art of rally ist Faszination Rallye, runtergebrochen auf das Nötigste. Und damit dieses Kunstprodukt funktionieren kann, hat sich Funselektor Gründer und Entwickler Dune Casu nach der Veröffentlichung von Absolute Drift 2015 erst einmal in seinen Bulli zurückgezogen. Zwei Jahre lang schleifte er die Idee Rallye als Kunstprodukt durch die Welt, ließ sich von markanten Landstrichen inspirieren, tauchte ein in das so nötige Element des Könnens. Denn ohne die Beherrschung eines Rallyefahrzeugs, das Verständnis für das Fahrverhalten und das daraus resultierende ästhetische Produkt, kein art of rally.
Dune ging zurück in die Schule. Doch nicht irgendeine Schule. Es sollte die prestigeträchtigste professionelle Rallye-Schule in Nord Amerika sein. Die DirtFish Rally-School. Fortan lernte der Developer den Umgang mit den brutalen Fahrmaschinen. Für sein, von den alten Colin McRae PC-Spielen inspiriertes Projekt, brauchte es vor allem Verständnis. Denn die so einzigartige Ästhetik entsteht nicht durch beliebiges Fahrverhalten, sondern durch die spezifischen Eigenheiten der Fahrzeuge. In Neuseeland fuhr er zusätzlich mit WRC-Boliden der 1990er Jahre, um das besondere Gefühl für die faszinierende goldene Ära des Rallyesports zwischen den 1960er und 1990er Jahren zu erlangen. Erst 2017 sollte dann die Vollzeitproduktion zu art of rally starten. Mit dem angeeigneten Wissen im Kofferraum ging es zurück ins Studio. Das erlangte Potenzial, machte es möglich, die realistische, fahrphysische Engine aus Absolute Drift weiterentwickeln und auf den Rallyesport anpassen zu können.
art of rally ist eine hochtechnologisierte, ästhetische Hommage an die goldene Ära des Rallyesports
Über 50 ikonische Rallyefahrzeuge werden auf 60 legendären Strecken polygone Staubklötze hinterlassen, um enge Häuserfassaden oder an steilen Schluchten entlang driften und durch kurzes hupen die völlig ekstatischen Fans von der Strecke vertreiben. art of rally wird abermals ikonische Bilder produzieren, Kunst eben. Das Kunstprodukt Rallye existiert, weil viele Faktoren ineinandergreifen und etwas völlig neues entstehen lassen. Erstrecht in dieser puristischen Form, die Funselektors Projekt innewohnt und den goldenen Zeiten des Sports Tribut zollen wird. Noch im Herbst 2020 soll das Kunstprojekt des halb Vanlife-Studio, halb Vancouver Indie-Studio auf Steam stilistischen Look mit realem Fahrverhalten verbinden.
Ohne die Aneignung des Verständnisses für Fahrverhalten im Extrembereich, ohne technischen Sachverstand und ohne das Gefühl für das Zusammenspiel von Faszination, Ästhetik, Bewegung, Design, Emotionen und Können, würde art of rally mit seinem reduzierten Low Poly Design zwar immer noch verdammt schick aussehen, es ist aber genau dieses Zusammenspiel, das aus einem gut aussehenden Spiel, durch Authentizität, feinem Gespür und der besonderen Ära des Sports, ein Kunstwerk werden lässt.
Wenn die laut aufheulende Maschine vom sensiblen Gasfuß um die enge Waldlichtung geschubst wird und das Gesamtgefüge aus Fahrzeugdesign, aufgewirbeltem Staub und Waldwipfeln durch die Röte des Sonnenuntergangs in Szene gesetzt wird, erst dann kann der Nährboden für Motorsport als Kunst entstehen. Es ist das Ende eines Prozesses. Erst an dessen Ende zeigt sich die paradoxe Ästhetik des Rallyesports – art of rally.