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The Longing Review | Das Leben ist langsam

400 Tage Warten. 400 Tage Alleinsein. Zwischen völliger Entschleunigung und Gefühlen der Einsamkeit. Das ist The Longing.

Dein Wecker klingelt. Hektisch schreckst du auf, flüchtest ins Bad, um unter die Dusche zu springen. Danach im Vorbeigehen schnell den Kaffee runtergeschluckt und schon musst du los. Du hast die U-Bahn im letzten Moment bekommen, um gerade noch rechtzeitig auf der Arbeit zu erscheinen. Emails, Deadlines und Meetings bestimmen deinen Tagesablauf nahezu minutengenau.
Nach der Arbeit noch schnell was einkaufen, bevor der Laden schließt. Das Treffen mit Freunden hast du gestern noch dazwischengeschoben, bevor du die wöchentlich erscheinende Episode deiner Lieblingsserie streamen willst. Sport? Ach nee, dafür ist heute wirklich keine Zeit mehr. Lieber noch ein bis zwei Stündchen mit einem Videospiel verbringen, um abzuschalten.

Schließlich wolltest du ja noch diese eine Nebenquest erledigen, bevor du mit der Hauptstory fortfährst. Aber dann kommt dir plötzlich dieser eine Charakter in die Quere, der fragt, ob du ihm nicht kurz noch eine Dose Bohnen aus seinem Lieblingsladen in Schießmichtot Town holen kannst. Machst du natürlich! Denn dafür gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach die lang erwartete Silber-Trophäe für den zweitausendsten erledigten Gefallen. Zu deiner erhofften Nebenquest kommst du heute dann aber doch nicht mehr. Denn der Lieblingsladen mit den Bohnen befindet sich auf der anderen Seite der Karte. Das beansprucht ca. eineinhalb Stunden deiner Spielzeit. Und morgen fängt das Ganze ja wieder von vorne an. Aufstehen, pendeln, arbeiten, Erledigungen abarbeiten, Termine wahrnehmen und streng getakteter Freizeitvertreib warten auf dich.

„Manchmal will ich einfach nur sitzen und nachdenken.“

In Zeiten von Termindruck und Hektik haben sich Videospiele deiner Lebensweise weitestgehend angepasst. Immerzu wirst du auch bei deiner eigentlich bewusst genommenen Auszeit von Aufgaben getrieben. Kuchenstückchenartige Zwischenziele innerhalb der Erzählung, Anhäufungen von Nebenaufgaben, freizeitsimulationsartige Ausmaße wie in GTA, in denen deine „Freunde“ beleidigter werden, wenn du mal keine Zeit hast.
Welt retten, Menschen retten, Wesen retten, Katastrophen verhindern, Unrecht ausmerzen, Dinge beschaffen, Gefallen erledigen, Ganoven aufspüren. Hinzu kommen zu fällende Entscheidungen oder countdownartige Antwortmöglichkeiten. Termine, Deadlines, Zeitdruck. Die Videospielwelt ist das exakte Ebenbild unserer hektischen Realität. Vielleicht auch, weil du es gar nicht mehr anders kannst. Nicht weißt, wie du mit freier Zeit tatsächlich umgehen sollst. Genau dann müsstest du dir ja Gedanken machen. Über Alles und Nichts.

Studio Seufz geht mit The Longing jetzt einen anderen Weg. Dein König hat sich über viele Jahre um das verzweigte Höhlenreich gekümmert. Sein Schatten hat ihm dabei viele Dienste abgenommen. Nun ist es jedoch für den König an der Zeit zu Ruhen und zu regenerieren. Verbrauchte Kräfte müssen wiedererlangt werden. Drum bittet er seinen treuen Schatten darum, ihn nach 400 Tagen Schlaf wieder aufzuwecken.

Studio Seufz gibt dir haargenau eine Aufgabe an die Hand. Und genau diese musst du erst in 400 Tagen ausführen. Doch nicht in 400 Spieltagen, sondern in 400 Erdentagen. The Longing läuft in Echtzeit, auch wenn du das Spiel abschaltest und erst in zehn Tagen wieder zurückkehrst. Dann wurde nicht etwa die Zeit angehalten und du steigst dort ein, wo du ausgestiegen bist. In der Welt der Höhlen sind dann ebenfalls genau zehn Tage vergangen. Deine einzige Aufgabe ist es, zu warten. Wie du das Warten füllst oder ob du das Spiel stumpf einfach erst nach 400 Tagen wieder öffnest, bleibt dir überlassen. Beenden kannst du es auf mehreren Wegen.

The Longing – Sehnsüchtig, einsam oder allein?

Wir werden im Leben dermaßen mit Aufgaben und Abhängigkeiten vollgestopft, dass wir nicht mal mehr wissen was wir tun sollen, wenn wir keine Aufgaben haben oder diese wegbrechen. Sind wir wirklich einsam oder haben wir bloß verlernt allein zu sein? Die Beschäftigung mit sich selbst ist müßig und Müßiggang verpönt. Das Aufsuchen der Muße. Faul seien die, die nichts tun oder das Entspannte und von Pflichten befreite Ausleben zelebrieren, so sagt man.

The Longing thematisiert den Wegfall von Abhängigkeiten und den plötzlichen Fall in das Allein sein, in die Einsamkeit. Auch unser Schatten muss sich an die neue Situation und die gewonnenen Freiheiten noch gewöhnen. Er scheint sich nicht sicher mit sich selbst. Er genieße die Einsamkeit, sagt er. Tage später vermisst er es zu reden, aber eigentlich könne er das auch ganz gut mit sich selbst.
Sehnsüchte tauchen erst auf, wenn ihnen gewährt wird zu wachsen. Das Wachsen der Persönlichkeit. Wachsen braucht Zeit, genau wie das Warten. Drum hat es unser Schatten auch nicht eilig. Seelenruhig trottet er durch die kargen Höhlen, vorbei an Kristall behangenen Wänden, prunkvolle Treppenhäuser hinauf oder herab.

Müßiggang

Doch, nur eine Aufgabe in 400 Tagen zu haben, ist nicht gleichbedeutend mit fehlender Beschäftigung. Unser Schatten kann dem nachgehen, was ihm beliebt, oder eben dir beliebt. Ups, entwickelt sich da eine neue Abhängigkeit?
Ob er nun in seinem Sessel nachdenkt oder Löcher in die Luft starrt, Bücher liest, Dekorationen für sein Zimmer oder Dinge für das Feuer sucht, ob er die komplette Höhlenlandschaft erkunden geht und somit viele versteckte Kleinigkeiten entdeckt, es ist allein ihm überlassen.
Der Müßiggang beschreibt nicht nur das Nichtstun, sondern ebenfalls den Umgang mit geistlichen Genüssen oder leichten vergnüglichen Tätigkeiten.

Und hier wären wir dann wieder bei deiner Metaebene im Videospiel. Videospiele können beides sein. Studio Seufz stellt dir jedoch völlig frei, was du mit dieser Aufgabenfreiheit anfängst und wie du gedenkst das Gefühl der aufkommenden Einsamkeit aufzufangen.
Ersteres beanspruchen auch Open World Spiele für sich, doch dort wirst du immerzu daran erinnert, dass du ja eigentlich noch anderes zu tun hast. The Longing ist das komplette Gegenteil vom Sandkasten der Möglichkeiten. The Longing ist pure Entschleunigung und Selbstreflexion.

Die Sekunden ticken auch beim Nichtstun gemächlich vor sich hin, während sich unser Schatten in der Nase bohrt, gelangweilt auf dem Boden herumtippt oder gleich einschläft. Hier hat das eine Bedeutung, dem du eine Bedeutung beipflichtest. So benötigen manche Vorgänge in dem Höhlensystem ebenfalls wieder Stunden bis Tage und Wochen. Manche hingegen beschleunigen die Zeit. Wieder einmal wirst du gezwungen dich mit dir selbst zu beschäftigen. Wieder einmal kannst du nur warten, allein. Auch die Erkundungen werden nicht frei von Enttäuschungen bleiben.

„Wenn ich selbst zur Dunkelheit werde, kann sie mich nicht sehen.“

Plötzliche Selbstbestimmung. Unser kleiner Schatten hat stets seinem König gedient und musste sich niemals Gedanken um sich selbst machen. Doch mit dem Warten kommt die Zeit und mit der Zeit die Selbstreflexion. Der Schatten war noch nie an der Oberfläche. Er hat das Licht nie gesehen. Und vielleicht ist das Licht sogar gefährlich. Aber wie kann er es wissen, wenn er es nicht selbst für sich herausfindet? Vielleicht ist das Licht genau das was er braucht? Muss er die Abhängigkeit vom König lösen? Muss er diesem Höhlenlabyrinth entkommen?

Es ist die Dunkelheit, die unserem Schatten Einsamkeit bringt. Wie in der Nacht, wenn sich das Leben langsam zur Ruhe setzt, Ablenkung und Gesellschaft nahezu völlig verschwinden. In den dunkelsten Stunden sind wir noch einsamer. Wir müssen lernen uns mit uns selbst zu beschäftigen, sonst werden wir die Einsamkeit nicht überwinden können. Du musst mit dir selbst leben können.

Und ein wenig hoffst du mit deiner ständigen Rückkehr zu The Longing unserem Schatten in seinem Allein sein zu unterstützen. Auf dass er die Dunkelheit und die Einsamkeit zu überwinden schafft und sich seinen Sehnsüchten stellt. Ein wenig unterstützt dich aber auch der kleine knuffige schwarze Schatten mit den ausdrucksstarken großen gelben Augen selbst deinen Tag zu bestreiten und dich in deinem Alleinsein zu bekräftigen. Und ein wenig überträgt sich dann die Abhängigkeit vom König auf dich. Doch eigentlich willst du das gar nicht. Dieser kleine Schatten soll frei sein. Frei in seiner Entscheidung.

The Longing schenkt dir Entschleunigung und Selbstreflexion

Studio Seufz haben ein stimmiges, liebevoll animiertes Höhlenreich voller authentischer Atmosphäre geschaffen, die eine Rückkehr nahezu unumgänglich erscheinen lässt. Auch, wenn es eigentlich gar nichts zu tun gibt, ist es genau diese freie Entwicklung innerhalb der Welt, die dich gebunden hält. Die Suche nach Entschleunigung. Es sind die Abhängigkeiten im Fortschreiten der Sehnsüchte des Schattens, die, einmal durch dich getriggert, in Gang gesetzt werden. Du willst ihm helfen sich selbst zu finden und damit seinen Platz in dieser Welt. Ob er nun dafür das Höhlensystem verlassen muss, einfach nur dasitzen, lesen, malen, musizieren oder ob er möglichst viel erleben muss, bis oder bevor die 400 Tage abgelaufen sind?

Ihr werdet es zusammen herausfinden und der Einsamkeit ein Schnippchen schlagen. Oder auch nicht! Wer weiß das schon so genau nach nicht einmal einem Zehntel der Zeit? Selbstreflexion benötigt Zeit. Und Zeit ist ja zum Glück noch genügend vorhanden. Oder auch nicht! Und was passiert eigentlich wenn wir unseren König nicht nach genau 400 Tagen wecken? Wer trägt die Verantwortung? Nun, auch das gehört zur gefestigten Persönlichkeit dazu. Selbstbestimmt Konsequenzen tragen und sie auf das Spielfeld gegen die Einsamkeit setzen. Aus Erlebtem lernen. Alles im gemütlichen Sessel zu überdenken.

Ich und mein Schatten werden noch eine gewaltige Zeit benötigen, um mit The Longing abzuschließen, die aufkommenden Gefühle zu be- und  zu verarbeiten. Wir wissen nicht was geschehen wird. Eine schöne Vorstellung. Aber auch eine beängstigende. Wir brauchen mehr von diesem Müßiggang, mehr von unserer Zeit, auch allein, auch in Videospielen. Um mit uns selbst besser Leben zu können. Um der Langsamkeit eine Chance zu geben.

8/10 <3

(vorläufiger, in Zahlen gefasster Spieleindruck)

Developer: Studio Seufz
Publisher: Application Systems Heidelberg
Genre: Adventure, Idle-Game, Echtzeit
Team: Anselm Pyta (Art, Animation, Game Design, Sound, Scripting), Thomas Krüger (Code), Stefan Michel (Producer), Laura Brosi (Technical Artist)
Musik und Sound: Jan Roth, Jürgen Härtensetein
Auszeichnungen: Long Feature Award (A Maze. 2019), IGF Finalist (Nuovo Award 2020), Special Mention ( Animated Games Award Germany 2020)
Veröffentlichung: 5. März 2020 (Steam), 14. April 2021 (Switch)

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