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Martha is Dead Review | Gruseliges doppeltes Lottchen 

Martha is Dead – das bleibt im Spiel von LKA nicht ohne Konsequenzen. Vor allem, wenn es dann noch zu einem Rollentausch kommt. 

Wolltet ihr schonmal euer Leben mit einer anderen Person tauschen? Vielleicht war eure Neugierde riesig, wie der Alltag eines bestimmten Menschen aussieht oder wie die Umwelt mit ihm umgeht. Vielleicht waren die eigenen Probleme gerade so überwältigend, dass der Gedanke an Flucht unwiderstehlich groß war. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Der Bürokratieapparat verlangt einiges an krimineller Energie, um dieses Vorhaben tatsächlich in die Tat umzusetzen. Das war vor einigen Jahrzehnten sicherlich einfacher. Wenn nicht alles digitalisiert und von überall abrufbar ist, dürfte es leichter sein, sich eine neue Identität aufzubauen. Den einfachsten Weg konnte Giulia allerdings im Horror-Adventure Martha is Dead nehmen, als sie das Leben ihrer toten Zwillingsschwester übernahm. Wenn selbst die eigenen Eltern den Unterschied nicht erkennen, ist es leicht in die Haut der beliebteren, gehörlosen Schwester zu schlüpfen. Es erklärt nur nicht, wie die genetischen Doppelgängerinnen überhaupt in diese Situation kamen. Das muss herausgefunden werden. 

Die Legende der weißen Frau 

An einem nebligen Morgen möchte Giulia ihre aufgestellten Kameras am See überprüfen. Sie hatte sie dort platziert, um den geheimnisvollen Geist der weißen Frau aus dem Wasser aufsteigend zu fotografieren. Vor Ort entdeckt sie nur ihre Schwester Martha, die tot in der Mitte des Gewässers treibt. Gerade, als die Eltern der beiden das Ufer erreichen, hat Giulia das Amulett ihrer Schwester angelegt, weswegen die Mutter prompt ihre Kinder verwechselt. Eine optimale Gelegenheit, um endlich nicht mehr die verhasste Tochter, sondern das geliebte Goldstück der Mutter zu werden. Trotzdem steht die Frage weiterhin im Raum, wie Martha ums Leben kommen konnte. Giulia sucht in Martha is Dead nach Hinweisen, während sie versucht, die Rolle ihrer Schwester zu erfüllen. Mit ihrer Kamera fotografiert sie sowohl interessante Objekte als auch schöne Erinnerungen an das Leben mit ihrem Zwilling. Es dauert jedoch nicht lange, bis diese Ermittlungen Probleme mit sich bringen. 

Die Grenzen zwischen Realität und Einbildung beginnen immer mehr zu verschwimmen. War die weiße Frau aus dem See verantwortlich? Weiß sie vielleicht etwas? Oder war es die Mutter? Wieso ist Giulias altes Kinderzimmer abgeschlossen und weshalb sind rätselhafte Notizen von Martha im kleinen Anwesen der Familie verstreut? Immer wieder wird die ländliche Idylle durch Albträume und explizite Gewaltdarstellungen unterbrochen. Dabei ist Martha is Dead äußerst atmosphärisch. Das Haus und der umliegende Wald sehen wunderschön aus, die Geräuschkulisse kann mit ihrer Stille fast schon erdrückend wirken. Knarzende Dielen, das Knacken alter Radios oder das bedrohliche Krähen eines Raben durchbrechen das Schweigen, dem sich Giulia in ihrer Rolle als gehörloser Zwilling auch hingeben muss. Gespräche führen kann sie nicht mehr, ohne aufzufliegen. Dabei wäre es sicherlich hilfreich, nach den lokalen Geistergeschichten zu fragen. Doch außer ihren Gedanken bleibt der Protagonistin nichts weiter. Belauschte Gespräche, gefundene Briefe und eine ausgiebige Spurensuche müssen ausreichen. 

Eine ungewohnte Perspektive 

Als Tochter eines deutschen Generals während des zweiten Weltkriegs, der eine Italienerin heiratete, steckt Giulia zusätzlich in einem weiteren Dilemma. Die Partisanen stehen in ständiger Auseinandersetzung mit den Faschisten im Land, die Zwillinge kennen die Rebellen aus Kindestagen. Giulia steht damit zwischen den Stühlen. Sich in einem Spiel gegen die Nazis zu stellen ist heutzutage nichts neues mehr. Plötzlich selbst auf der anderen Seite zu stehen und auf den Briefen des Vaters einen Stempel der Waffen-SS zu sehen, ist neu. Martha is Dead stellt vor allem deutsche Spielende vor Tatsachen, die sie gerne ignorieren würden: Die eigene Familie bestand aus Tätern des Nationalsozialismus. Plötzlich erhalten die verstörenden Bilder eine ganz neue Dimension. Stehen sie in Zusammenhang mit der Verarbeitung unterschiedlicher Gräueltaten des Vaters? Ist es eine Reaktion Giulias auf die Erkenntnis, in was für einem Umfeld sie aufwächst? 

Das Entdecken eines versteckten Waffenlagers der Nazis ist für mich einer der beklemmendsten Momente des gesamten Spiels. Ich bin nicht hier, um gegen Horden grimmiger Faschisten zu kämpfen. Nein, mein eigener Vater weiß von diesem Lager und nutzt es im Kampf gegen die lokalen Partisanen. Auch wenn das Spiel die Entscheidung offenlässt, ob Giulia ihrem Vater von den Widerstandsbemühungen der Partisanen erzählt oder sie lieber dabei unterstützt, war die Entscheidung für mich glasklar. Der Horror der deutschen Geschichte hat mich weitaus kälter erwischt, als es die Geschichte rund um die weiße Frau je hätte tun können. Nur ist es genau diese Offenheit der Entscheidungen, die mir einen ebenso fiesen Beigeschmack hinterließen. Nationalsozialisten zeigen Reue in Briefen an ihre Verwandten – Giulia und ihre Familie werden mit der Zeit in eine Opferrolle gesteckt. Die Tochter äußert sogar, von all den Untaten nichts zu wissen. Ein altbekanntes Narrativ, auf das ich gerne verzichte! 

Martha is Dead und nichts passt zusammen 

Ich verlange keine Dämonisierung der Nationalsozialisten in einem Videospiel, erwarte jedoch, dass zumindest auch die Schrecken ihrer Herrschaft klar benannt werden. Das passiert in Martha is Dead kein einziges Mal. Am Ende bleibt nur ein “Krieg ist schlimm” stehen, was ich äußerst verantwortungslos finde. Als wäre das nicht schon problematisch genug, ist das Spiel zu großen Teilen technisch nicht ausgereift. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft das Spiel einfach eingefroren ist. Stellenweise bin ich durch den Boden in eine endlose Leere gefallen. Wenn ich mit meiner Kamera Fotos machen wollte, führte jeder Knopfdruck dazu, dass ich nach hinten lief. Garniert wird all das mit einer Schriftart, die durch ihre Schnörkel stellenweise absolut unleserlich war. Martha is Dead ist auch abseits der Fehler nicht gerade zugänglich.

Nach einem Spielerlebnis, kann ich einige Zeit danach weitaus verzeihlicher auf das Werk blicken. Momente, über die ich mich aufgeregt habe, verblassen und ein positiver Gesamteindruck bleibt bestehen. Hier passiert das Gegenteil. Je länger ich über Martha is Dead nachdenke, desto unglücklicher macht mich diese Erzählung tatsächlich. Die Plotholes zum Ende sowie die generell verwirrende Auflösung muss ich dabei nicht einmal in meine Ausschweifungen einführen. Da lasse ich noch das Argument der Geschmacksfrage gelten. Wenn jedoch diese technischen Klöpse mit einer gerade heutzutage verantwortungslosen Geschichtsdarstellung einhergehen, kann ich nicht einfach sagen: „Och, aber die Momente im Wald waren so schön schaurig und die Träume herrlich verstörend.” Dann habe ich einfach ein grundlegendes Problem mit einem Spiel. Und das lässt sich für mich nicht ignorieren. 

4/10 💀👭 

Developer: LKA
Publisher: Wired Productions
Genre: Psychological Horror-Adventure
Team: Luca Dalcò (Director, Lead Gamedesign), Alessio Belli (Technical Director, Sound Design), Lorenzo Nocchi (Lead 3D Artist), Lorenzo Conticelli (Lead Animator)
Musik: Davide Terreni, Francesca Messina
Veröffentlichung: 24. Februar 2022 (Steam, Epic Games Store, GOG, PS5, PS4, Xbox Series X|S, Xbox One)


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