Ein Zuhause zu finden, das sich auch so anfühlt? Gar nicht so einfach. Vor allem nicht, wenn du es, wie in No Longer Home, aufgeben musst.
Zuhause. Was bedeutet das eigentlich? Ist es der Ort, an dem du geboren bist? Der Ort, an dem du dich heimisch fühlst? Oder ein Ort, an dem du dich akzeptiert und wohlfühlst? Ist es schlicht dein aktueller Wohnort? Dein Zuhause? Und wo ist dieser Ort, wenn Komplikationen ins Leben einziehen. Trennung, Baumaßnahmen, Enteignung, Krieg, Zerstörung durch Klimaveränderungen oder politische Verfolgung? Wo ist dieser Ort, wenn du dich umorientierst, selbstbestimmt leben willst? Kannst du das einfach frei entscheiden? Schränken dich durch Politik und Krieg gesetzte Grenzen, Lohnarbeit und Staatszugehörigkeiten nicht noch immer ein? Und was, wenn deine Eltern aus verschiedenen Regionen oder gar Ländern stammen. Viele fordern Entscheidung, sortieren dich entweder hier oder dort ein. Ist ein Gefühl des wohligen Zuhauses so überhaupt irgendwo möglich? Und dann wäre da noch die Verortung innerhalb der Gesellschaft. Innerhalb eines binären Systems. Wo ordnen sich Menschen mit dem Gefühl, nirgends Zuhause zu sein, ein?
No Longer Home: Wer nicht produktiv ist, muss gehen
Genau das fragen sich auch die beiden Developer Hana Lee und Cel Davison von Humble Grove im semiautobiographischen Narrative No Longer Home. Denn das, was die beiden Protagonist_innen Ao und Bo für etwa ein Jahr ihr Zuhause nennen durften, ist in ein paar Wochen nicht mehr ihr Zuhause. Ao ist für das Studium aus Japan nach London gekommen und genau dessen Abschluss haben beide gerade hinter sich gebracht. Kein Studium und kein „lukrativer“ Job in Sicht, der ein Visum stemmen könnte, bedeutet gezwungenermaßen Abschied. Abschied von dem Ort, der beide Leben zusammengebracht hat, ein geborgenes Gefühl vermitteln und beiden zeigen konnte, es gibt da draußen tatsächlich jemanden wie mich. Denn, wie die beiden Hauptdeveloper, sind Ao und Bo ebenfalls non-binary Personen – Menschen also, die sich weder als Mann, noch als Frau identifizieren.
Doch bei all den Themen, die im Verlaufe der Erzählung mitschwingen, spielen vor allem der gegenseitige und der Abschied vom gemeinsamen Zuhause die Hauptrollen in No Longer Home. Denn ein paar Wochen vor dem Auszug ist nicht nur kaum etwas gepackt, auch die ungewisse Zukunft nimmt sich den Raum, den sie in den engen vier Wänden braucht. Eine melancholische Grundstimmung trifft auf Erinnerungen und tiefgehende Dialoge. Fragen darüber, ob es Optionen gegeben hätte, wechseln sich beim Schlendergang durch die Wohnung mit charakterbeschreibenden Gedankengängen über die jeweils andere Person und Retrospektiven ab. No Longer Home transportiert allein über seine Spielgeschwindigkeit ein Gefühl der Ohnmacht. Die fehlende Perspektive. Das Loch, das sich immer weiter ausbreitet und doch nur zum Erstarren führt. Das einstige Zuhause, es wird ihnen entrissen – aufgrund politischer Willkür.
Komm zum Punkt!
Wahlweise als Ao oder Bo erkundest du die Wohnung, schaust dir Gegenstände an, kommentierst Bilder und Szenerien. In Diaologen und Gesprächen entfalten sich Lebenssituationen und Herkunft. Es wird gesprochen über Studium, Lohnarbeit, Familie, Identität. Vor allem aber über die nicht vorhandene Perspektive nach dem Auszug. Ein Auszug, der für Ao die Rückkehr nach Japan bedeutet. Und obwohl No Longer Home durchaus nachvollziehbare Dialoge kreiert und wichtige Themen aufwirft, ihnen fehlen immer wieder Fokus und Nahbarkeit. Vielleicht bin ich es aber auch als Person, die niemals studiert hat, einfach nicht gewohnt, dass in Gesprächen kaum Albernheiten, Popkultur oder alltägliches auftauchen. Gespräche verzetteln sich hier gerne mal, finden kein Ende, drehen sich immer wieder im Kreis. Das mag zum Teil die Aussichtslosigkeit unterstreichen, hilft aber nicht dabei, sich den Charakteren zu nähern.
Und genau das wäre in einer digitalen Erfahrung, die vor allem die Lebensrealität, ein Ereignis oder einen markanten Punkt im Leben von Menschen thematisiert, verdammt wichtig. Entweder geben dir Humble Grove hier zu wenig Zeit, die Charaktere wirklich kennenzulernen oder sie verlieren sich in seitenweiser Konversation. Wenige Gespräche bleiben mir nach dem Erlebten noch in Erinnerung. Es sind die markanten, in denen ich mit den Freund_innen der Beiden ein Videospiel spiele, auf visualisierte Ängste treffe oder mit den Katzen rede. In den meisten jedoch, bleibe ich als Gästin unbeteiligte Zuschauende. Erst gegen Ende komme ich Ao und Bo langsam näher. No Longer Home besitzt keine klassische Spannungskurve, sondern erzählt über zwei Menschen lose von zwei Menschen, die ihr Zuhause bald verlassen müssen. Selbst der drohende Tag X des Auszugs trägt wenig zur Dramatisierung der Lage bei. Die Protagonist_innen igeln sich ein.
No Longer Home sieht aus wie eine requisitenreiche Theaterbühne
Was sich jedoch im Kopf festbeißt ist das theaterartige Low-Poly Design, das je nach Szene seine Requisiten auseinanderbaut und wieder zusammensetzt. 90 Grad Drehungen geben die Sicht frei auf eine neue Perspektive. Und somit auch Perspektiven der Personen. Das detailreiche Interieur erzählt von Charakterzügen und der Wohnsituation der Bewohner_innen. Wenn ich einem Pixel animiert als Fruchtfliege über dem Obst beim Treiben zusehe oder einen Blick auf die Dinosauriersammlung auf dem Schreibtisch werfe, blicke ich auf Zeitzeugen des gemeinsamen Lebens. Auf Vorlieben und Eigenarten. Show don’t tell funktioniert zumindest hier. Immer wieder bauen Humble Grove auch abstrakte Formen und Wesen in ihr Kammerspiel ein, die aktiv in die Erzählung einfließen. Langsame Umbauten am und Kamerafahrten über das Set erzählen vom gedanklichen Abschweifen. Den unsortierten Gedanken. Die Flucht, die das drohende Ziel des Auszugs immer wieder in die geheime „Bitte nicht öffnen“ Schachtel zurücksteckt.
War eigentlich ganz schön hier, so das vermittelte Gefühl. Musikalisch melancholisch unterstützt, in dessen Gesamtgefüge sich der entfaltende Schreibmaschinendialogsound als treibender, vordenkender Beat exakt einkuschelt. No Longer Home schenkt seinen queeren Charakteren ein alltägliches Abbild, das Probleme und Fragen von nicht binären Menschen thematisiert, aber nicht zum allgegenwärtigen Thema auserkoren hat. Vielmehr ist es ein Merkmal von vielen, das sie zu den Personen werden lässt, die sie sind. Und genau das macht No Longer Home mit seinen vielschichtigen Persönlichkeiten zu einem wichtigen Vertreter der Sichtbarkeit von queeren Menschen in den Medien. Denn die Frage, die auch im Narrative aufgegriffen wird, ob es da draußen wohl überhaupt solche Menschen wie diese beiden gibt, wird mit einem lauten, sensiblen „Ja natürlich“ innerhalb einer erfrischenden Normalität beantwortet und konserviert.
Ein Zuhause für marginalisierte Menschen
Das einstige Zuhause, es wurde den Entwickler_innen genommen, doch sie haben zumindest vorübergehend mit No Longer Home ein neues Zuhause gefunden. Eines, das sowohl von England, als auch von Japan aus zugänglich ist. Ein Zuhause, das sich für die beteiligten aufgrund von Herkunft und Familie überhaupt zum ersten Mal wie ein Zuhause angefühlt hat. Für Cel und Hana war es die Möglichkeit, über die Entwicklung des Spiels weiterhin in Kontakt zu bleiben. Ich habe selber lange in meinem Leben nach diesem Zuhause suchen müssen. Komplett angekommen bin ich vermutlich noch immer nicht. No Longer Home ist kein perfektes Zuhause, aber wer kann von seinem Zuhause schon sagen, dass es absolut perfekt ist? Für viele Spielende wird es eine der wenigen Möglichkeiten sein, sich endlich verstanden und gesehen zu fühlen. Das so ein Zuhause für alle Menschen auch in der Realität möglich wird, daran sollten wir dringen arbeiten.
7/10 🏡
Developer: Humble Grove
Publisher: Fellow Traveller
Genre: Narrative
Team: Cel Davison (they/them | Lead Writer, Cinematographer), Hana Lee (they/them | Lead Artist, Animator), Adrienne Lombardo (they/them | Lead Programmer, Concole Development), Lotte May (she/her | Console Development, Additional Programming)
Musik: Eli Rainsberry (they/them)
Auszeichnungen: Visual Excellence Award Nominee (BitSummit 2017), Indie Award Nominee (Famitsu 2017), PlayStation Award (BitSummit 2021)
Veröffentlichung: 30. Juli 2021 (Steam, Epic Games Store, GOG, Humble), 7. Oktober 2021 (Xbox One, Switch)
Dir hat diese Review gefallen? Dann lass uns gerne einen Kaffee da!