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Neurodeck Review | Stelle dich deinen Ängsten!

Im Roguelike-Deckbuilder Neurodeck tauchen wir ins Unterbewusstsein ab und bekämpfen mithilfe unserer Emotionen Phobien.

Durch die langanhaltende Pandemie ist mentale Gesundheit endgültig im Mainstream des öffentlichen Diskurses angekommen. In den USA stieg der Anteil der Menschen mit Depressions- und Angststörungssymptomen im Zeitraum von 2019 bis Januar 2021 von 11% auf 40% der erwachsenen Bevölkerung. Unter österreichischen Jugendlichen betrug diese Rate bei einer aktuellen Studie sogar 56%. Auch in Deutschland sank laut der Universität Saarland die Lebenszufriedenheit durch die Lockdowns, während die Sicht der Leute auf die Gesellschaft pessimistischer wurde. Einsamkeit und Ungewissheit können unterdessen Ängste bei den Menschen schüren. Vom Kampf gegen die Angst handelt auch Neurodeck von Tavrox Games und Goblinz Publishing. In deren Deckbuilder wird die Auseinandersetzung mit Phobien visualisiert, während am Rande Episoden aus dem Leben der Protagonistinnen erzählt werden. Ein für diese Zeiten passendes Spiel.

Dein Leben als Waffe in deinem Neurodeck

Das namensgebende Neurodeck ist eine State-of-the Art Technologie, die den Zugang zum Unterbewusstsein ermöglicht. Das Deck wird durch eine ausgewählte Emotion, welche erforscht werden soll, festgelegt. Trauer, Wut, Überraschung, Freude – jede Ausprägung verändert das Erlebnis. Zwei Charaktere stehen im Mittelpunkt des Tauchgangs in die Psyche: Lei und Jupiter. Lei ist neu in einem fremden Land. Sie ist eine eher extrovertierte und unternehmungslustige Person. Zwischenmenschliche Beziehungen und neue Erlebnisse sind ihr wichtig. Jupiter ist gerade von zuhause ausgezogen und ist ruhig, introvertiert, künstlerisch. Ein Katzenmensch, der den Abend lieber mit einer Tasse Tee und Räucherstäbchen verbringt. All das erzählt Neurodeck nur indirekt, das meiste erfahren wir durch die Karten, die wir im Laufe des Spiels sammeln. So unterschiedlich Lei und Jupiter sind, ihr Ziel ist dasselbe: sie müssen sich ihren Ängsten stellen und diese besiegen.

Um dies zu bewerkstelligen spielen wir Ereignisse und Gegenstände aus, die den Lebenswandel der Protagonistinnen beschreiben. Sieht sich Jupiter einen ihrer alten Lieblingsfilme an, verliert ihre Angst sechs Lebenspunkte. Gönnt sich Lei eine ganze Pralinenschachtel, so werden ihrer Angst gleich 12 Punkte abgezogen. Doch dabei müssen wir immer auf die Ausdauer und die Vernunft der jungen Frauen achten, denn ohne die nötige körperliche und mentale Kraft lassen sie sich leicht von den Phobien unterkriegen. Wenn die Kraft nicht mal mehr reicht, um duschen zu gehen, oder den Müll rauszubringen, wie sollen wir uns unseren tiefsten Ängsten stellen? Eben! Also immer schön hydriert bleiben, essen und Self-Care betreiben!

Deine Furcht bekommt ein Gesicht

Über ein Dutzend Phobien nehmen als Gegner einen zentralen Raum in Neurodeck ein. Dabei fühlt sich jede der Gegner_innen – manche Ängsten werden anthropomorph und manche als Tier oder Ding dargestellt – wie ein mit Augenmaß handgefertigter Endgegner an. Jede Phobie offenbart bald Stärken und Schwächen und stellt auch artistisch ausgezeichnet dar, wofür sie stehen soll. Die Tokophobie, die Angst vor der Schwangerschaft, presst ihr Baby in Wellen aus sich heraus, ihre Angriffskraft steigert sich von Runde zu Runde, bis sie in post-natale Depression versinkt und sich so angreifbar macht. Die Entomophobie, die Angst vor Insekten, stört mit ihrem Brummen die Konzentration der Protagonistinnen, sodass es uns schwer fällt sie wirkungsvoll zu bekämpfen.

Die Rundenkämpfe laufen dabei je nach Charakter und Deck anders ab. Die „Überraschung“-Emotion profitiert zum Beispiel von Leis Fähigkeit schnell neue Karten zu ziehen, wobei sich Geschenke und Pralinen beim Ausspielen im Deck von selbst duplizieren. Leis introspektive Art schlägt sich in Meditationspunkten nieder, die wir sammeln und die für mächtige Effekte sorgen können und uns sogar Runden der gegnerischen Phobie überspringen lassen. Synergien zu finden macht Spaß und lässt uns die Ängste noch effektiver bekämpfen. Durch den für ein Roguelike mäßigen Schwierigkeitsgrad werden aber auch Anfänger_innen nicht abgeschreckt. Das Erkunden der Ängste und Decks bleibt schön entspannt.

Erzähl mir doch mehr von dir

Doch was ist mit den Gefühlswelten von Lei und Jupiter? Durch die Karten der jeweiligen Emotionen kenne ich nun ihre Hobbies und ähnliches, doch wie lauten ihre Geschichten? Zwischen den Kämpfen dürfen wir uns entscheiden, wie sich die beiden beschäftigen. Schlafen bringt neue Karten. In der Turnhalle erhöhen sich maximale Ausdauer und Vernunft. Umfragen schalten passive Fähigkeiten wie barmherzig, faul oder introvertiert frei und in der Küche stärken uns Ravioli und Ratatouille für den nächsten Kampf. Im Zuge dieser Intermezzi werden teilweise kleine Schnipsel von Alltagsgeschichten in Form eines inneren Monologs erzählt. Die Hauptfiguren müssen sich mit Alltagsrassismus auseinandersetzen, haben erotische Träume über ihre Mitbewohnerin oder schreiben einen Brief an ihre verstorbene Großmutter. Das Ganze kommt nicht so emotional rüber, wie es sich liest, denn die kurzen Texte stehen stets ohne Kontext und wiederholen sich ständig. Selbst zwischen den Charakteren kommen oft gleiche Geschichten vor.

Auf diese Art kann ich sicher keine Bindung zu Lei und Jupiter herstellen, auch wenn ich gerne möchte! Das Problem könnte schon der Philosophie von Neurodeck zugrunde liegen, denn Léonard Bertos, der Narrative Designer des Werks sagt in einem Selbstinterview des Teams auf der Steamseite des Spiels: „Game Design first, then writing“. Genau das ist Neurodeck anzumerken, denn während mich das Gameplay immersiv in die Lebenswelt der jungen Frauen einführt, versagt für mich die nachfolgende, direkte Erzählung auf ganzer Linie, sodass am Ende keine übergreifende Story entstehen kann. Das ist sehr schade, denn die Mechaniken und die liebevoll erstellten Karten und Phobien sind herausragend! Ja, es bereitet mir Freude die Emotionen auszureizen, Ängste zu überwinden und dabei Hunde zu streicheln und Leis „Comfort Food“ zu verdrücken. Ohne einen roten Faden hinterlässt Neurodeck trotzdem einen sehr schalen Nachgeschmack.

6/10 🧠

Developer: Tavrox Games
Publisher: Goblinz Publishing
Genre: Roguelike-Deckbuilder
Team: Yannick Elahee (Creative Direction, Gameplay, Code), Victoria Guareschi (Visual Art Direction, Content), Jeanne Prigent (Visual Animations), Kilian Dufour (Coding, Gamefeel), Léonard Bertos (Narration, Writing), Félix Moll (Game Design, Balancing), Nikiforos Apergis (Administrative and Business Development), Nicolas Guegen (Sound Director)
Musik: Tilia Weevers
Veröffentlichung: 18. März 2021 (Steam, Switch)

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