The Shattering lässt euch Psyche und Erinnerung eines Menschen erforschen, um verborgene Traumata aufzudecken.
Ich finde es großartig, dass Videospiele mittlerweile nicht mehr vor ernsten Themen zurückschrecken. Sie bieten dem Team hinter einem Spiel die Möglichkeit, persönliche Erfahrungen mit Tod, Depression, familiären Schwierigkeiten, Krankheit oder anderen Schicksalsschlägen zu präsentieren und vielleicht sogar zu verarbeiten. Selbst wenn diese Spiele mich nicht abholen sollten, bin ich froh darüber, dass es sie gibt. Es benötigt kein ausgefuchstes Gameplay, um ein Thema nuanciert und persönlich zu zeigen und wenn die Veröffentlichung eines solchen Titels dem Team hilft und diesen Menschen etwas gibt, ist das schon genug, um einem Spiel Beachtung zu schenken.
Als ich also hörte, dass The Shattering aus dem polnischen Hause Super Sexy Software vom Frankfurter Studio Deck13 veröffentlicht wird und genau solche ernsten Themen ansprechen will, war mein Interesse direkt geweckt. Ich wollte ihre Herangehensweise sehen und entdecken, mich mitreißen lassen. Doch leider muss ich jetzt schon sagen, dass das so überhaupt nicht geklappt hat.
Wir haben einen Durchbruch!
Ich schlüpfe in die Haut von John Evans, ein Mann mit Amnesie. Er sitzt bei seinem Psychotherapeuten und versucht herauszufinden, was seinen geistigen Zustand verursacht hat. Also hypnotisiert der Arzt meinen Charakter und schickt ihn auf eine Reise durch seine Gedankenwelt. In Johns Gedanken ist fast alles in Weiß, Schwarz und Grautönen gehalten. Für ihn wichtige Elemente stechen in einem kräftigen Rot oder Blau hervor. Es scheint sehr schnell klar zu werden, dass John seine Erinnerungen durch einen Unfall verloren hat. Aber wie kam es dazu? Was genau ist passiert? Das sind die Fragen, die ich herausfinden will und für die ich tiefer in seine Psyche eintauche. Dabei setzen sich Flure direkt vor meinen Füßen zusammen, Wände zersplittern unmittelbar vor mir, wenn ich einen wichtigen Baustein finde und machen den Weg in neue Erinnerungen frei. Und schnell merke ich, dass einiges in Johns Leben gehörig schief lief.
Zu Beginn faszinierte mich diese Reise sehr. Was hat sich Game Director Marta Szymańska alles ausgedacht, um die Psyche dieses traumatisierten Menschen darzustellen. Und wie haben Arkadiusz Burczyk als Environmental Artist und Programmer sowie Katarzyna Kozłowska als Art Designerin diese Vorstellungen in The Shattering umsetzen können? Die Möglichkeiten der menschlichen Fantasie sind nahezu grenzenlos, bieten also unglaublich viel Potential in der Gestaltung. Was sind letztendlich die Schlüssel, die ich finden muss, um weiter in die Psyche meines Charakters vorzudringen? Immer wieder stoße ich auf tolle Ideen, wenn zum Beispiel in Johns Kindheit die Lösungen einer Matheaufgabe wirr über die Tafel schwirren und seine Überforderung zeigen oder die Menschen um ihn herum gar nicht oder nur als große Holzpuppen zu sehen sind. Doch leider hat das 3-4 Stunden lange Spiel mit seinem Fokus auf dem Entdecken der Umgebung diese Faszination nicht aufrecht halten können, mich mit der Zeit sogar in Rage versetzt.
The Shattering will zu viel
In einem DevBlog-Video erzählt Marta Szymańska, dass die Idee zum Spiel bei einem gemeinsamen Bier mit dem restlichen Team entstanden ist. Sie saßen gemeinsam am Tisch und strickten dort John als Charakter sowie seine Geschichte zusammen. Und das konnte ich im Spiel leider auch merken. Es wirkte so, als hätte die Truppe am Tisch versucht, sich ständig weiter in der Geschichte zu übertrumpfen, ständig etwas Neues oben draufsetzen wollen und damit etwas den Fokus verloren. The Shattering ist eine Ansammlung an Schicksalsschlägen, von denen keiner die nötige Zeit bekommt, um die notwendige Wirkung zu erzeugen. Jeder Spielabschnitt zeigte so schlimme Szenarien, dass sie für sich alleinstehend die Bedeutung verloren. Vielmehr empfand ich es, als würde jemand neben mir stehen und durchgehend brüllen: “Guck mal! Suizid! Und da! Kindesmisshandlung! Oh, und hier erst! Alkoholsucht! Ach, Ehekrise auch noch! Ist ja der Wahnsinn!”
Besonders gestört hat mich dabei, dass jedem Thema jegliche Subtilität fehlte. Es lässt sich natürlich argumentieren, dass John nun mal unter Hypnose stand. Unter Hypnose ist ein Mensch nicht mehr in der Lage, Erinnerungen zu filtern. Dementsprechend gibt es keine subtile Darstellung, sondern die ungeschönten Erlebnisse. Aber ich befand mich eben nicht in einer echten, menschlichen Psyche, sondern in einem Videospiel. Das hier hat eine Gruppe von Menschen gestaltet und dementsprechend kann ich hier auch etwas Fingerspitzengefühl erwarten. Die Triggerwarnung zu Beginn des Spiels ist angebracht und richtig, doch trotzdem muss das Spiel nicht gestaltet sein, als wäre im Hintergrund eine Checkliste, welchen Triggerpunkt man noch mit voller Kraft drücken könnte. Damit spreche ich dem Team diese Entscheidung nicht ab. Videospiele sind Kunst und Kunst muss frei sein dürfen, jedoch nicht frei von Kritik. Und die hier gewählte Herangehensweise halte ich sowohl für verantwortungslos als auch für handwerklich zu plump.
A Beautiful Mind
The Shattering hat so viel Potential. Ich glaube, ich habe mich vor allem so aufgeregt, weil hier ein großartiges Spiel hätte liegen können. Das Art- und Sounddesign bieten einen hervorragenden Rahmen. Es ist kreativ, vielseitig und trotz der minimalistischen Gestaltung und Farbgebung, der oftmals weiß und hellstrahlenden Räume recht schaurig und unangenehm. Der Wechsel von den beruhigenden Klängen alter Schallplatten hin zu dröhnendem Wummern und krachenden Wänden funktioniert jedes Mal. Wenn sich die Räume um John herum verzerren, plötzlich Wasser aus allen Wänden läuft und die Fenster wie auch Türen zugenagelt sind, zeigt Super Sexy Software, was sie aus ihrem Spiel hätten herausholen können. Jedoch hätten sie dem Spiel entweder mehr Zeit lassen, um nicht so heftig durch die einzelnen Elemente hindurch zu hetzen oder sich mehr auf einzelne Elemente fokussieren sollen, die so in der kurzen Spielzeit besser ausgearbeitet hätten werden können.
Meine Kritik wäre tatsächlich anders ausgefallen, wenn ich irgendwo herausgelesen hätte, dass es sich hierbei um die persönlichen Erfahrungen einer beteiligten Person handeln würde. Da es aber aus einer lockeren Kneipenrunde entsprungene Ideen sind, würde ich mir in Zukunft etwas mehr Bedachtheit bei der Gestaltung der Geschichten seitens der Super Sexy Software wünschen. Schließlich ist sich nicht jeder Mensch bewusst darüber, dass ihn etwas triggern könnte. Eine Warnung zu Beginn schützt also nicht vollständig. So wichtig ich es auch finde, solche Themen unverblümt ansprechen zu können, muss doch aber nicht jedes mögliche und vorstellbare Trauma aus der Klischeekiste gekramt werden. Damit wäre meiner Meinung nach allen Beteiligten mehr geholfen.
5/10 🤯
(Anmerkung der Redaktion: In einer kommenden Podcast Folge werden wir zu The Shattering weitere Blickwinkel zum Spiel besprechen. Denn Super Sexy Softwares Erfahrung mag in seiner polarisierenden Auslegung durchaus auch andere Wahrnehmungen hervorbringen)
Developer: Super Sexy Software
Publisher: Deck13
Genre: Narrative Explorationgame
Team: Marta Szymańska (Game Director); Arkadiusz Burczyk (Lead Environmental Artist, Programmer); Katarzyna Kozłowska (Artist, Designer)
Musik: DORR Timothée
Veröffentlichung: 21. April 2020 (Steam)