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„Spiele müssen Spaß machen!“ | Nein verdammt, müssen sie nicht!

Systemsprenger

SYSTEMSPRENGER

Immer und immer wieder der selbe Satz. Er kommt zu den Ohren wieder raus. Was Developer von Filmen lernen können.

Ein Monat ist es her seitdem du die Gamingwelt mal wieder komprimiert in Gesprächen wahrgenommen hast. Auf der Gamescom hast du mit vielen unterschiedlichen Developern gequatscht. Allesamt stellten sie völlig unterschiedliche Konzepte vor. In gut der Hälfte dieser Gespräche tauchte gleich zu Anfang, während der Erklärung des Spielkonzepts, immer wieder ein Satz auf. Ein Satz, der dir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Der sich in deinem Kopf festgefressen hat und dich mit Vorverurteilungen quält. Ein Satz, den du verabscheust. Den du am liebsten aus dem Sprachschatz aller Entwickler_innen eliminieren würdest.

„Ein Spiel muss zu aller erst einmal Spaß machen!“

Schon beim Niederschreiben dieser Wortkette stellen sich alle Haare deines Körpers aufrecht. Allein das „Muss“ scheint fehl am Platz. Völlig unabhängig vom Konzept, welches das vorgestellte Spiel denn eigentlich verfolgt, muss es zu aller erst einmal Spaß machen? Geht das denn überhaupt? Kann ein Spiel, dass mitten im historischen Kontext des zweiten Weltkriegs spielt oder sich in tiefenpsychologische Sphären abseilt überhaupt „Spaß“ als Emotion erzeugen? Nun, der Entertainment Platzhirsch Call of Duty würde sagen, ja klar! Aber ist es abseits dessen nicht vielmehr ein anderes Gefühl, das dich bei Laune hält? Dich weiterspielen lässt oder lassen soll?

Wir spulen einen Monat vor in Richtung gestern (23.09.2019). Es ist ca. 22:30 Uhr. Völlig ausgelaugt tapst du die Treppen hinunter in Richtung Ausgang des Kinos. Zwei Stunden lang wurden deine Nerven bis aufs letzte strapaziert. Völlig fassungslos, ja nahezu ohnmächtig saßt du in dem bordeauxroten Sessel des dunklen Saals und starrtest auf die Leinwand. Zur Bewegung völlig unfähig, aufgegangen in ambivalenter Emotionsanarchie. Du hast so ziemlich alles gespürt. Sympathie, Antipathie, Empathie, Ekel, Angst, Enttäuschung, Wut, Unverständnis, Freude, Mitleid, Verzweiflung und eben die gerade angesprochene Fassungslosigkeit, die Ohnmacht. Spaß jedoch war nicht dabei.

Systemsprenger

Filme arbeiten immer wieder und absichtlich mit Gefühlen und Emotionen, die sie durch gezeigtes und Erlebtes hervorrufen wollen. Spaß ist da nur eines von vielen.
Sicher, auch der Großteil der Kinobesucher_innen wird sagen: „Im Kino will ich Spaß haben und abschalten.“ Das ist auch völlig in Ordnung und in gewisser Weise die gesamte Ausrichtung des Mainstreamkinos. Doch Abseits dessen gibt es so viel mehr zu erleben. Filmemacher_innen haben verstanden, dass das Medium nicht formell erst einmal Spaß machen soll. Oder hast du jemals auch nur einen Menschen sagen hören. „Verdammt, mit Schindlers Liste hatte ich aber jetzt einen riesen Spaß!“?
Nein? Ich auch nicht! Und warum? Weil Steven Spielberg genau wusste, dass sein Film viele Emotionen und Gefühle tragen kann, soll und wird. Spaß war vermutlich aber keine davon.

Genau damit arbeitet auch Nora Fingerscheidts Systemsprenger. Der Film, der gestern auf meinen Nerven umhergesprungen ist, sie mit schrillen Tönen zerschrien hat. Mit unglaublichen Schauspiel und wilder Kamera eine abartig nahbare und großartige Erfahrung transportierte.
Und so vermittelt Systemsprenger vor allem eines, pure Hilflosigkeit. Warum also ist die Annahme, dass Spiele vor allem erst einmal Spaß machen sollen noch immer so verbreitet? Und das auch unter denen, die sie entwickeln?

Scheiß Interaktivität

Mit „Spaß machen“ beziehen sich die aussagenden Personen zumeist auf das Spielsystem, die Steuerung, das Gameplay. Die interaktive Ebene, die dich nicht mehr nur zusehen, wahrnehmen und teilhaben lässt, sondern im Ablauf integriert. Wenn diese Ebene versagt, ist ein adäquates Erlebnis nahezu unmöglich und ersetzt sich durch Frust.

Doch auch diese Ebene muss keinen Spaß machen. Sie muss funktionieren, den anvisierten, zu transportierenden Gefühlen und Emotionen dienlich sein. Das ist kein Spaß, das ist reine Funktionalität. Genau wie die Pedalerie eines Autos die Auswirkung der Fortbewegung in Gang setzt. Das kann Spaß machen, muss es aber nicht. Und doch hat es keinerlei negative Auswirkungen auf dein Reiseerlebnis, wenn es vordergründig keinen Spaß macht, sondern einfach praktikabel erscheint.

Vielmehr kann diese interaktive Ebene viel weiter ins Spielgeschehen eingebunden werden, auch mal störrisch sein, um gewollte Gefühle bei den Spieler_innen ankommen zu lassen. Dass das nicht für alle funktioniert und zuweilen eine anstrengende Erfahrung bildet, sollte völlig klar sein. Aber wir bewegen uns hier ja auch in der Indie Welt. Die Welt, die mit Innovation und Mut die Möglichkeiten im Medium Videospiel auszuloten vermag.

Nach der Innovation ist vor der Innovation

Warum versteift ihr euch noch immer auf über 40 Jahre alte Konzepte? Seid mutig, arbeitet innovativ, ebenfalls mit der interaktiven Ebene des Spiels. Lasst eure Steuerung mal einen Haken schlagen, erzählt tief ohnmachtsfähige Geschichten, verbreitet Fassungslosigkeit. Spiele sind nicht nur Entertainment für den schnellen Spaß, Spiele können so viel mehr sein.
Ein mächtiges Instrument zur Nachvollziehbarkeit von emotionalen Vorgängen.

Die Entwickler_innen von Spielen wie Neverending Nightmares, Emporium oder Please Knock on my Door haben das verstanden. Hier soll wirklich nichts Spaß machen und doch lassen sie dich an ihren Geschichten kleben wie Erdnussbutter an deinen Händen.
Setzt euch noch mal ins Kino, lernt von über 100 Jahren Film, der von der reinen Jahrmarktsattraktion Ende des 19. Jahrhunderts zur heutigen anerkannten Kunstform mutierte. Auch, weil er nicht die Gegebenheit hingenommen hat, dass ein Film vor allem eines muss: Spaß machen!

Ein Spiel kann Spaß machen. Ein Spiel muss jedoch in keinster Weise Spaß machen. Klammert den Spaß aus. Ich möchte nicht in jedem Spiel pauschal Spaß haben. Es gibt so viele Emotionen zu erleben, warum sich auf eine beschränken und sie in jedes Spiel hineinpressen wollen?

Autorin: Benja Hiller
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