Trüberbrook Review | klassisches Modelleisenbahn Sci-Fi Drama Adventure

Denkblockaden sind verdammt fies. Da hast du das Dokument vor dir und weißt einfach nicht was du damit anfangen sollst. Zum Glück hat Tannhauser bei einem Gewinnspiel einen Urlaub in Trüberbrook gewonnen. Nur teilgenommen hat er eigentlich gar nicht!

Was wäre das für ein Grund diesen sehr willkommenen Erholungsurlaub auszuschlagen, aufgrund einer kleinen Belanglosigkeit, dieser Lappalie nicht teilgenommen zu haben? Die angepriesene Ruhe kann der junge Physiker jedenfalls gut gebrauchen. Um auf andere Gedanken zu kommen und die malerische Landschaft als Inspiration zu nutzen. Also begibt sich Hans Tannhauser über Berlin in das Luftkurörtchen Trüberbrook. Über holprige Serpentinenstraßen durch beeindruckende Bergkulissen gelangt er mittels VW Bulli in das kleine beschauliche Dorf. Doch schon in der Nacht nach dem einchecken werden ihm seine Dissertationsdokumente gestohlen. Gut, dass sich Gretchen gleich mit einklinkt und Hans, nicht ganz uneigennützig, bei seiner Suche nach der Quanten Physik Abhandlung unterstützen will.

Zwischen klassischem Drama und Sci-Fi Mysterien

Doch schnell entwickeln sich die generelle Erzählung geschrieben von Florian Köhne und Nils K. Müller und die Ausführungen der urigen Bewohner_innen Trüberbrooks zu skurrilen Mythen und mysteriösen Ereignissen. Das 1967er Trüberbrook ist durchzogen von übernatürlichen, außerirdischen und prähistorischen Hommagen. Das Adventure lässt sich von der einzigartigen Science-Fiction dieser Zeit inspirieren, kritzelt ein wenig Twin Peaks Vibe oben drüber und arrangiert seine Ausführungen als wäre es ein ausgewachsenes Klassisches Drama. Ein klassizistisches, eventuell episch geprägtes Schauspiel in fünf Akten plus Prolog und verstecktem Epilog. Trüberbrooks Handlungsstrang wandert klassisch langsam über klar gegliederte, sich steigernde erzählerische Elemente des Theaters, die sich durch Tarantinoesk eingeblendete Kapiteltitel klar abgrenzen. Der Vorhang fällt nach jedem einzelnen Akt.

Von der Exposition (Kapitel 1), die alle Spielenden in die Gegebenheiten des Schauspiels einführt, über die Steigerung (Kapitel 2) der Handlung, die die Ereignisse dramatisiert, bis zum Höhepunkt (Kapitel 3), der das Hoch der Spannungskurve bildet und einen entscheidenden Wendepunkt einleitet. Danach geht es langsam Richtung Katastrophe (Kapitel 5). Klar, dass sich Trüberbrook für die fallende Handlung, das retardierende Moment (Kapitel 4), inklusive der Verzögerung der Katastrophe am meisten Zeit nimmt. Das ganze erzählerische Konzept kann mit seiner langsamen Steigerung auf manche Menschen zäh erscheinen, wirkt in seiner literarischen Planung und Konzeption, gerade innerhalb eines Videospiels mit diesem umfangreichen Gesamtkonzept aber äußerst faszinierend und durchdacht. Trüberbrook zelebriert nicht nur seine visuelle Außergewöhnlichkeit, sondern absorbiert diese in jedem kleinsten Detail seiner einzigartigen Existenz. Da stören kleinere Schwächen innerhalb der Erzählung nur bedingt.

„Im fahlen Licht der Sterne scheint das Dorf nur aus zackigen Schemen und Einsamkeit zu bestehen“

Nicht nur die langsame Steigerung der Handlung mag dich zum Spaziergang im Örtchen einladen, auch die beeindruckenden Bauten und Kulissen von Trüberbrook lassen dich ständig ungläubig stillstehen und an bezaubernden Szenerien innehalten. Eine Mischung aus Einsamkeit und belebter Idylle.

Alles was du in Trüberbrook siehst ist per Hand mit viel Liebe zum Detail aufgebaut worden. Über 30 einzelne echte Modelle, die das Dörfchen und dessen Umgebung zum Leben erwecken. Entstanden in mühevoller Kleinarbeit von einem Team aus neun Modellbauer_innen (Setdesignern) wie bei einer Modelleisenbahn Landschaft. Die fertigen Modelle wurden in verschiedenen Kamerawinkeln, echten Belichtungen und Jahreszeiten inklusive Schneeflocken abfotografiert. Per Photogrammetrie entstand so ein exaktes digitales 3D-Abbild der Schauplätze, die mit den handgemalten und anschließend animierten Charakteren belebt werden. Ein Hauch Augsburger Puppenkiste oder Wes Anderson Stop Motion Film inmitten Heimatfilmartiger Sets vor dem Hintergrund einer Sci-Fi Erzählung. Gerade die unglaublich echt und organisch wirkende Szenerie von Trüberbrook mit seiner exakten natürlichen Beleuchtung verleiht dem Adventure der bildundtonfabrik (btf) diese unglaubliche Authentizität. Noch nie hast du in einem Videospiel derartig vergleichbares World Building gesehen. Egal wie realitätsgetreu die Animationen aus den modernsten Triple-A Games auch zu sein scheinen, dieser natürliche aber zugleich comichafte Design-Stil ist völlig  einzigartig und atemberaubend.

Natürlich will sich das Spiel in diesem Fall in seiner Erzählung Zeit nehmen, dich zum Erkunden animieren und dich etliche Male von einem zum anderen Ende des Dorfs schicken. Diese Mentalität spitzt sich in einer Szene zu, die sich musikalisch inmitten der fallenden Handlung zur Katastrophe platziert. Etliche Minuten purer Genuss, in denen du Musik und Ambiente des Örtchen einfach nur aufsaugst. Das hier ist tatsächlich Urlaub. Urlaub inmitten der Weltrettung. Paradox aber wunderschön.

Diese musikalische Szene ist nicht das einzige soundtechnische Zuckerstückchen, das die fünf Sounddesigner der btf GmbH aus Köln und Berlin in ihrem Adventure implementiert haben. Schon zur Gamescom 2018 haben wir Trüberbrook mit dem Titel der besten Atmosphäre bedacht. Du hörst Vögel zwitschern, das rasseln der Bäume im Wind und das Treiben des belebten Dorfplatzes zum Dorffest. Jedes einzelne Geräusch, inklusive der Schritte auf unterschiedlichen Belägen, wurde mit passender Unterlegung bedacht. Zu jeder Szene die exakte Vertonung. Von der ruhigen Hintergrundmusik über mysteriöse Klänge bis hin zum dramatischeren, treibenden Arrangement. In Trüberbrook ist alles bis ins kleinste Detail durchdacht und umgesetzt worden. Kein einziges Erlebnis soll der wabernden Erzählung in die Quere kommen und stets die perfekte Begleitung anbieten. Natürlich bildet da die grandiose Synchronisation, sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch, keine Ausnahme. Die durch Nora Tschirner, Jan Böhmermann, Dirk von Lotzow, Dominik Wirth und Justin Beard in den Hauptrollen prominent besetzten Sprecher_innen-Rollen finden in allen Situationen mitreißende und authentische Intonationen.

„Ich muss zugeben, ich habe mich schon jetzt in dieses Dörfchen verliebt.“

Trüberbrook ist ein Adventure, das sich an klassische Point & Clicks anlehnt, aber allzu absurde Auswüchse des Genres zu Gunsten der Erzählung und der Atmosphäre abwirft. Der klassische Ansatz findet sich vor allem in der Auswahl mit den zu interagierenden Elementen des Spiels. Zwar gibt es hier anschauen, reden, „benutzen“ oder mit etwas kombinieren als einheitliche Auswahl. Alle Elemente sind aber nicht immer auswählbar. So werden die meisten absurden Handlungen und reines Ausprobierchaos von vornherein ausgeschlossen. Das mag deinen kreativen Drive im Weg stehen einfach wild drauf los zu kombinieren, fördert aber vor allem das logische Fortschreiten innerhalb des Spiels. Denn auch dein Inventar ist, bis auf Ausnahmen, nur mit bestimmten Gegenständen und Leuten quasi automatisch kombinierbar. Rätsel und Aufgaben sind zu großen Teilen plausibel implementiert. Weißt du einmal nicht weiter hilft zumeist ein erneuter intensiver Gang durch den Ort, um die Lösung zu triggern. Und wer wandert nicht gerne durch wunderschöne Landstriche?

Zudem kannst du Gegenstände, die Interaktion zulassen mittels eines Tastendrucks anzeigen lassen. Nur in wenigen Fällen wirft der geforderte zu findende Gegenstand Fragen auf wie das Finden eines Feuerzeugs. Du siehst Protagonist Tannhauser bei ausufernden Konversationen regelmäßig rauchen. Im Laufe des Spiels muss er etwas entzünden doch kann er es nicht, denn er besitzt ja kein Feuerzeug oder Streichhölzer. Also muss er sich auf die Suche begeben. Doch überflüssige Rätsel erscheinen selten in Trüberbrook. Zwar musst du oft tauschen oder Gegenleistungen erbringen, was gerade in der eigentlichen Drucksituation der Erzählung etwas realitäsfern wirken mag, aber allzu absurde Auswüchse bleiben dir zumeist erspart. Vielmehr fördern sie wiedereinmal das Verweilen im Luftkurort. Noch einen Gang am See vorbei oder die steilen Treppen hinauf zur Seilbahn? Gerne, ist ja schließlich Urlaub und keine Weltrettung… oh, Moment mal? Ach, egal!

Im Laufe des Spiels gesellen sich immer mehr Schauplätze zur gesamten Umgebung Trüberbrooks. Schauplätze, die durch kleine Kamerafahrten und einzigartige Beleuchtung in Szene gesetzt werden. Schauplätze, die ihren ganz eigenen Charme inmitten des mysteriösen Settings versprühen. Ein wenig Skurrilität, ein wenig Mulmigkeit.

Nur kleine Fehler reißen dich manchmal aus der totalen Immersion des klassischen Dramas heraus. Fehlerchen, die sicher mit den nächsten Patches verschwinden werden, in der frühen Phase der Veröffentlichung normal und nachvollziehbar sind und sehr wenig Putz von der grandiosen Ausstattung des Spiels abknabbern und daher kaum Nennenswert erscheinen. Fehlerchen, die beim nächsten Blick auf die malerische Landschaft, die untergehende Sonne, die tollen Bauten des Ortskerns und mit der Vorfreude auf die Entwicklung der Erzählung  unmittelbar verschwunden scheinen.

„Come and visit Trüberbrook for a perfect summer vacation!“

Trüberbook ist ein modernes Point & Click Adventure, das seinen Fokus klar auf Erzählung und Ambiente legt. Auf die perfekte Illusion, die dich wie beim intensiven Lesen eines Buches in seine Welt hineinzieht und für die Dauer des Aufenthaltes nicht wieder loslässt. Trüberbrook macht Abstriche im Bereich des klassischen Point & Click Gamesplays, um dich nicht mit wilden Rätseln und nicht plausiblen Auswüchsen zu frustrieren. Trüberbrooks Humor ist mit einer gewissen deutschen Eigenheit versehen, die aber äußerst liebenswert und witzig erscheint. Zudem ist dieser Humor ähnlich wie bei modernen Animationsfilmen auf seiner Metaebene funktionsfähig. Es ist ein Spiel für die ganze Familie wie der Nachmittag, an dem alle mit Opas Eisenbahn spielen dürfen und ihren ganz eigenen Spaß entwickeln. Deshalb gibt es auch ein Häkchen für Kinder, das das Rauchen und weitere Dinge im Spiel entfernt. Und schwups, ergibt die Suche nach dem Feuerzeug auch wieder Sinn.

Trüberbrook ist überaus ansprechend geschrieben. Es kreiert eine packende Science-Fiction Erzählung mitten im Heimatfilm. Der Idylle des deutschen Landes im kalten Krieg. Es integriert Wissenschaft in amüsanter Umgebung ohne zu versteifen. Trüberbrooks Menschen sind bis in die kleinste Nebenfiguren interessant geschrieben und deine Unterhaltungen mit ihnen von Anekdoten, Familiendramen (Buddenbrooks Inspiration?) und Absurditäten gespickt, die sich zum Teil innerhalb der Geschichte aufklären.

Trüberbrook ist Sci-Fi Action mit Modelleisenbahn Flair und 60er Jahre Dorf-Touch. Ein klassisches Drama als Videospiel, in dem die Gliederung des Schauspiels exakt zum aufbereiteten Bühnenbild passt. Eine logische Konsequenz. Es ist ein unglaubliches Stück digitalisiertes Handwerk und vor allen ein in sich stimmiges Spiel. Trüberbrook vertraut auf sein einzigartiges Setting, seine immense Atmosphäre und liefert dir ein mysteriöses, durch den Mixer getriebenes Genre-Gebilde, das am Ende vor allem eines kann: Dich für sieben bis zehn Stunden köstlich zu amüsieren, dich zu beeindrucken, dich zum Verweilen einzuladen und zu unterhalten. Trüberbrook ist das Luftkurörtchen für den perfekten Erholungsurlaub.

9/10 <3

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Developer: btf GmbH
Publisher: Headup Games
Förderer: Medienboard Berlin-Brandenburg, Kickstarter
Director: Florian Köhne
Producer: Lea Gamula & Darius Cernota / Executive Poducers: Matthias Murmann & Philipp Käßbohrer
Autoren: Florian Köhne (+2D-Artist) & Nils K. Müller
Team: Hans Böhme (Lead Artist, Animator, 3D Artist), Jakob Weiss (Lead Animator, Animator), Benjamin Denkert (Character Design), Julian Schleef (Visual Effects Supervisor), Jakob Beurle, Louisa Paulsen (Animator), Jo Müller (Animator), (Cinematographer), Simon Sommer (Programmer), David Murmann (Graphics Programmer), Cedric Sprick (Motion Capturing Actor), Lea Bormann-Damberg (3D-Artist), Michael Rizzi (3D-Artist), Diego Taddia-Pontet (3D-Artist), Paula Tolvia-Rubio (3D-Artist), Enrico Götze (3D-Artist), Julia Hein (3D-Artist), Stephanie Kayss (3D-Artist), Alexander Becker (3D-Artist), Artur Buliz (World Lore Illustrator), Anne Pothenick (2D-Artist), Laura Schraufstetter (2d Artist), Katharina Huber ( Charakter Concepts)
Set Design: Lea Fumy, Janika Streblow, Stefanie Becker, Robert Windisch, Ferdinand Hansen, Johnny Haussmann/Assistent_innen Setbau: Susanne Gartner, Marnie Grunewald, Rika Schneider
Sound-Design: Matthias Krämer, Kai Holzkämper, Robert Keilbar, Paul Große-Schönepauck, Tom Vermaaten / Dialogue Editing: Jan Schläger, Marek Forreiter / Assistant Sound Design: Stefan Erschig, Jan Philipp Vinzenz und andere
Musik: Sebastian Nagel, Albrecht Schrader, Joshua Gottmanns, Dennis Jüngel, Niklas Wandt, Lutz Streun /Band: Sebastian Kiefer, Benedikt Gramm, Steffen Brüntjen, Kristian Zepplin
Cast: Dominik Wirth (Hans Tannhauser, deutsch), Justin Beard (Hans Tannhauser, englisch), Nora Tschirner (Greta Lemke), Dirk von Lotzow (Lazarus Taft), Dr. Heinrich von Streck (Jan Böhmermann), und andere
Veröffentlichung: 12. März 2019 (Steam/PC, Linux, Mac), 17. April 2019 (PS4, Xbox One, Switch), evtl. iOS, Android

Das komplette btf Team kannst du dir hier noch einmal in Ruhe anschauen.

Autorin: Benja Hiller
Chefredakteurin | Website | + posts

Die Allround-Tante von WTLW. Trägt Kamera, trinkt Oatly Kakao und spielt alle narrativen Games mit gebrochenen Wesen und kaputten Persönlichkeiten. Gerne minimalistisch und völlig entsättigt. Hauptsache irgendwie eigen, mit dem nötigen Wahnwitz im Konzept. Außerdem fährt sie mit Leidenschaft im Kreis.

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