Mein Kind Lebensborn Review | Wie soll ich das bloß erklären?

Ein Kind zu adoptieren ist eine noble Sache. Dies in den Nachwirkungen eines Krieges zu tun, in dem Kinder potentiell als Übermenschen herangezüchtet wurden, dazu noch mutig. Aber wie reagiert deine Umwelt darauf?

„Dreijähriges Kind zur Adoption freigegeben. Hinweis: Kriegskind“

Mein Kind Lebensborn war Kandidat für unsere Most Wanted Indie Games 2019. Offenbar ist gänzlich an uns vorbei gegangen, dass das Spiel bereits seit Sommer 2018 auf den Markt ist. Es ist ein edukatives Spiel der norwegischen Studios Teknopilot und Sarepta Studio für iOS und Android. Gefördert von diversen norwegischen Stiftungen, setzt dieses Spiel einen weitaus stärkeren Fokus auf Tiefgang und Fakten. Es will den Spieler_innen nahebringen, wie es sich aus Sicht der Norweger angefühlt haben muss, ein Kind des Lebensborn-Projektes zu adoptieren.

Eine Lebenssimulation oder ein sogenanntes „Nurture-Game“, wie Tamagochi eins ist, da genauso wie im Taschen-Ei ein Lebewesen innerhalb immer neuer Tageszyklen versorgt werden muss. Der Unterschied findet sich hauptsächlich in der Story, die auf wahren Geschichten von Lebensborn-Kindern beruht und in den Gameplay-Elementen, die über einfache Nurture-Games hinausgehen. Abseits von der Erfüllung grundsätzlicher Bedürfnisse wird den Spieler_innen vor Augen geführt, wie mit Fremdenfeindlichkeit, Mobbing in der Schule oder gar Missbrauch umgegangen werden kann.

„Was ist ein…‘Nazikind‘?“

Was ist eigentlich dieses Lebensborn-Projekt? Im Zweiten Weltkrieg war der Lebensborn-Verein ein staatlich geförderter und durch Himmler geleiteter Verein zur Unterstützung der „Rassenhygiene“. Es wurden ledige Mütter aufgenommen, deren gefallene Männer Deutsche Soldaten waren, um die Aufzucht dieser „arischen“ Kinder zu kontrollieren. Auch wurden Kinder von Deutschen Soldaten mit Frauen, aus zum Beispiel Norwegen, aufgenommen. Da die Norweger im „Rassenbild“ der Nationalsozialisten als „arisch“ galten, waren diese Kinder ebenfalls würdige Kandidaten, die „arische Rasse“ fortzuführen. Neben Heiratsverboten, Euthanasie und Zwangssterilisationen war Lebensborn eine weitere Methode, den Erhalt der „arischen Rasse“ zu gewährleisten. Der Begriff ist dabei nicht wie zu denken wäre ein deutsch-englisches Mischwort. „Born“ stammt aus alten Deutschen Dialekten und steht für „Brunnen“: Lebensbrunnen also.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden einige der Lebensborn-Kinder, die überlebten, zur Adoption freigegeben. Allerdings galten gerade die Kinder aus Deutsch-Nicht-Deutschen Beziehungen als Nazikinder und wurden in den Heimatländern der Nicht-Deutschen Frauen als Feindbild angesehen. Mit dieser Grundsituation entlässt der Mobiltitel die Spieler_innen in ihre neue Aufgabe entweder Klaus oder Karin aufzuziehen.

Tagesablauf planen

Einmal das Geschlecht des Kindes ausgewählt, beginnt das Spiel 1951 in einer kleinen Stadt in Norwegen. Autor – und frisch gebackener Vater im echten Leben – Dennis hat sich für Karin als Kind entschieden. Also kümmere ich mich um Karin, die bald ihren ersten Schultag vor sich hat. Sie hat verschiedene Bedürfnisse wie Hunger, Sauberkeit und Freude. Diese möchten in Zeiteinheiten verbrauchenden Spielzügen bedient werden. Jeder Tagesabschnitt wurde in unterschiedlich große Einheiten aufgeteilt, die auch mal keine Aktionen einplanen, weil Kind und Elternteil mit Schule oder Arbeit beschäftigt sind. Am Sonntag kann die Zeit der Schule bzw. der Arbeit privat genutzt werden, so dass dem Elternteil und dem Kind mehr Zeit zur Verfügung steht.

Der größte Kritikpunkt liegt im irrational verteilten Verbrauch der Zeiteinheiten. Das macht das Tagesmanagement schwierig und äußert sich zum Beispiel im Bereich Lebensmittel. Fertige Gerichte oder Lebensmittel kaufen kostet keine Zeit, Essen selber kochen aber sehr wohl. Für jedes Gericht fällt somit eine Zeiteinheit an, während fertige Gerichte in beliebigen Mengen für eben selbige Zeiteinheit gekauft werden können und zudem gleich satt zu machen scheinen. Die ungleich balancierte Verteilung der Zeiteinheiten zieht sich durch alle Bereiche von „Mein Kind Lebensborn“. Es wird versucht, die Aktionen adäquat in Einheiten aufzuteilen damit der Tag taktisch ideal gestaltet wird, sich am Ende aber in wenig plausiblen Einteilungen verliert. Wie dem Blaubeeren pflücken zum Beispiel, das einen überproportional angelegten, kompletten Nachmittag in Anspruch nimmt.
Wenn die Routine aber irgendwann verinnerlicht wurde, Prioritäten eingeschätzt werden können und finanzielle Aspekte mit berücksichtigt werden, erscheint das Spielsystem wesentlich durchsichtiger. Karin kommt dann auch mal einen Tag ohne Essen aus oder muss nicht zwingend gewaschen werden. Fühlt sich grausam an, ist aber im Anbetracht der Tatsache, dass nach dem Krieg wenig Geld vorhanden war gar nicht so unrealistisch.

Diskriminierung und Ausgrenzung

Dass der Elternteil sich fürsorglich um die einst einsame Karin kümmert hat „leider“ keine Auswirkung auf ihr Dasein in der Schule. Die Kinder hänseln und ärgern das „Nazikind“, beschimpfen und verprügeln es sogar. Mein Kind Lebensborn transportiert die Emotionen der damaligen gelebten Situation recht eindringlich.

Es sollte als gutmütig und großherzig angesehen werden ein Kind aus einer verbotenen Liebschaft im Krieg aufzunehmen, um dem ungewollten Menschen ein schönes Leben zu bescheren. Aber die Nachbarn und Kinder projizieren ihren Hass auf die Deutschen auf dieses einzelne Kind. Dabei ist es ein norwegisches Kind. Es hat bloß einen deutschen Vater. Wie können sie dieses unschuldige Kind abstoßen und beleidigen? 

 

Karin weiß nicht mal was Nationalsozialismus ist, weswegen sie schon bald nachfragt, was ein Nazikind sei. Sie ist nicht böse; erst Recht nicht zu den Nachbarn oder den Kindern in der Schule. Es ist einzig ihr Ursprung, der auf Ablehnung stößt. Wie bringe ich Karin bei damit umzugehen? Wenn sie von der Schule nach Hause kommt und ihre Laune auf einem erneuten Tiefpunkt angelangt ist, erzählt sie von den negativen Ereignissen des Tages. In verschiedenen Antwortmöglichkeiten kann ihr so Mut gemacht, sie getröstet oder ihr vermittelt werden, wie sie die Dinge am besten ignoriert.

Mein Sohn ist vor zwei Monaten auf die Welt gekommen und ich kam nicht drum herum mehrfach Tränen zu verdrücken, wenn ich mir hilflos vorkam und nicht wusste, was ich Karin sagen sollte. Gleichzeitig ging mir das Herz auf als ich Karin zu Weihnachten mit gekaufter Wolle ein Fuchsstofftier gehäkelt habe, was natürlich auch Zeiteinheiten beansprucht hat. Ihre Freude darüber war es aber allemal wert. Es gab mir jedes Mal einen wohliges Gefühl, ihr abends eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, um ihre Gedanken von den gemeinen Nachbarn, Mitschülern und Lehrern abzulenken. Nur Herr Berg behandelt sie wie einen Menschen, passt auf sie auf und beschützt sie. Das ist Karins Lieblingslehrer.

Nach einigen Tagen geht ein Kapitel zu Ende und der Statistik-Screen zeigt, zu wie viel Prozent optimistisch, bestimmend oder aufrichtig mit Karin umgegangen wurde. Je mehr sie von ihrer Vergangenheit erfährt, desto mehr möchte das Kind ihre Eltern kennen lernen oder wenigstens erfahren, warum sie so von allen behandelt wird. Die moralischen Entscheidungen und insbesondere der Umgang der Schüler und sogar der Lehrer mit Karin treffen mitten ins Herz. Um Karins Wunsch zu erfüllen wird eine Briefkorrespondenz mit den Eltern, Großeltern und dem Pfarrer aufgenommen, damit Karin erfährt wo sie herkommt. Gleichzeitig erscheinen aktuelle Ereignisse aus Norwegen in der Zeitung und im Tagebuch wird verfasst, was die Nazis in Norwegen verbrochen haben. Karin kann all das nachlesen, sobald sie alt genug ist.

„Lebensborn, Nummer 4812 / Ich bin so froh dich zu haben“

Ich hätte nie gedacht, dass ich so lange über einen Tamagochi-Klon schreiben könnte, aber die Geschichte um die Kinder des Lebensborn-Vereines reißt tiefe Furchen in mein Weltbild. Krieg ist furchtbar und nach Anne Frank, My Memory of Us oder Die Bücherdiebin sind Schicksale von Kindern im Zweiten Weltkrieg nichts Neues mehr. Aber jede einzelne Geschichte ist mit Trauer und Verzweiflung gesäumt. Es sind doch nur Kinder. Die Tatsache, dass echte Geschichten von Lebensborn-Kindern die Vorlage für das Spiel waren macht alles noch schwerwiegender, aber somit auch vereinnahmender.

Ich gebe dem Spiel keine Wertung, weil es ein „Serious Game“ ist. Die Game Design-Schwächen zu bemängeln wäre der Story gegenüber nicht fair. Spielt also bitte selbst Mein Kind Lebensborn (My Child Lebensborn) und bildet Euch zu diesem (mir vorher jedenfalls) unbekannten Aspekt des Zweiten Weltkrieges weiter.

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=onkHe-z89Zk&w=560&h=315]

Original Titel: My Child Lebensborn
Developer: Sarepta Studios AS
Producer: Teknopilot AS
Team: Elin Festøy (Producer, Writer), Catharina Due Bøhler (Lead Game Designer, Writer), Ørjan Svendsen (Artist),  Kjartan Forthun (Artist), Philip Hallangen (Artist), Stian Røbergeng (Artist), Richard Barlow (Lead Programmer), Nuno Correia (Programmer), Øyvind Rasmussen (Programmer), Christine Stensberg (Animator), Simon Poole (Sound-Designer, Composer), Ozan Drøsdal (Writer), Sofia Lersol Lund (Consultant Writer)
Veröffentlichung: 8. Mai 2018 (Android, iOS)

Wenn du noch mehr zum Thema Kinder, die im Krieg geboren wurden, erfahren möchtest, kannst du auf der Seite Children Born of War mehr zum Thema erfahren. Mein Kind Lebensborn wurde ebenfalls von diesem Netzwerk unterstützt. 

Autor: Dennis Strillinger
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